Lindbergs Weltgeschichten (30) Das Tagebuch der Queen

Berlin (RPO). Lindberg lebt im Jahr 2060, ist 75 Jahre alt und berühmt und entschließt sich, seine Memoiren zu schreiben. Jeden Freitag veröffentlicht er hier ein weiteres Kapitel. Diesmal äußert sich die Queen zur Hochzeit von William und Kate.

 Der Grat zwischen Toilettenrollenhaube und Hut ist schmal.

Der Grat zwischen Toilettenrollenhaube und Hut ist schmal.

Foto: AP, AP

2011

Die Menschen haben die Monarchie nicht immer für ein bescheuertes Konzept gehalten. Zwar hatten sich die meisten zu Beginn des 21. Jahrhunderts von der Idee verabschiedet, dass der König irgendwas zu sagen haben sollte. Aber in ihnen war eine tiefe Sehnsucht nach den alten Zeiten, ohne dass sie die alten Zeiten wirklich wieder haben wollten. Sie hatten einfach nur das Gefühl, dass in der Gegenwart etwas fehlte, das ihnen Flachbildschirme und Coffee-To-Go nicht geben konnten. Und die Demokratie war ja doch bloß etwas, das man so hinnahm, weil sie einem nicht allzu viel wegnahm.

Das war der Grund, weshalb 50 Prozent der Menschheit regelmäßig ihr normales Leben einstellten und der nächsten Hochzeit in einem der großen Königshäusern entgegenfieberten. Es war ihnen egal, dass dieses Ereignis nicht den geringsten Einfluss auf den Verlauf der Weltgeschichte hatte — Hauptsache, sie fühlten sich wie in einer altmodischeren und deshalb besseren Welt.

Im Jahr 2011 war wieder eine solche Hochzeit. Der britische Thronfolger Prince William heiratete seine Kate. Dass er nicht mehr britischer König werden würde, weil die Monarchie auch in Großbritannien längst in ihren letzten Zügen lag, ahnte niemand. Die halbe Welt freute sich über dieses Märchen.

Königin war damals Elizabeth II., keine wirklich herzliche Monarchin, aber alten Menschen konnte ja niemand so richtig böse sein. Erst nach ihrem Tod stellte sich heraus, dass die Queen ein Tagebuch geführt hatte. Auch in den Tagen vor der Hochzeit von William und Kate. Und dort zeigte sich, dass die Königin zu den wenigen Menschen gehörte, denen die Hochzeit ziemlich egal war.

Dienstag, 26. April

Ich muss noch doch einmal zu drastischen Worten greifen, die sich für eine Frau meines Ranges nicht ziemen: Der heutige Tag war richtig beschissen. Ich, die Königin von Großbritannien und Nordirland, musste mir selbst ein Marmeladenbrot schmieren.

Heute Morgen wachte ich wie immer vor der Dämmerung auf. Philip schnarchte wie ein Besessener. Ihm floss der Speichel aus dem halboffenen Mund. Irgendwann einmal werde ich ein Kopfkissen nehmen und die Welt wird mir dankbar sein. Seit Jahrzehnten schon überlege ich, warum ich ihn geheiratet habe. Damals muss ich entweder sehr verliebt oder sehr betrunken gewesen sein.

Wie gewohnt läutete ich mit der Glocke neben meinem Bett. In zwei Minuten würde mir eine Bedienstete Tee und Toast ans Bett bringen, wie ich es gewohnt war. Doch auch nach fünf Minuten war noch niemand aufgetaucht. Ich läutete erneut. Wieder ohne Erfolg. Philip wachte auf.
"Warum bimmelst du denn die ganze Zeit herum?"
"Weil ich Tee und Toast haben möchte, aber es kommt niemand."

Noch während ich antwortete, war Philip wieder eingeschlafen. Ich wartete noch eine ganze Weile, dann wurde es mir zu blöd. Ich stand auf und machte mich auf den Weg in die Küche. Sie war leer, was mich sehr verwunderte. Wo steckte das Gesinde? Wo die Mägde und Knechte? Der Hunger ließ mich nicht weiter darüber nachdenken, ich brauchte nun unbedingt Tee und Toast. Ich hatte bloß keine Ahnung, wo was in der Küche stand. Das musste die Königin von Großbritannien und Nordirland wirklich nicht wissen. Ich riss alle Schränke auf, bis mir irgendwann eine Packung Toast entgegenfiel.

Aus dem Kühlschrank fischte ich die fast leere Diät-Erdbeermarmelade. Es kostete mich sehr viel Mühe, den Toaster in Gang zu setzen, und nach vier Minuten erschien mir der Toast auch etwas dunkel. Das glich ich durch mehr Marmelade aus. Nun musste ich mir nur noch einen Tee kochen. Aber wie um Gottes Willen kochte man Tee? Es wurde wirklich Zeit, dass einer der Bediensteten auftauchte. Saßen die etwa alle gleichzeitig auf der Toilette?

In diesem Moment tapste Philip im Pyjama in die Küche. Er öffnete den Kühlschrank, nahm sich eine Flasche Bier, öffnete sie und setzte sie sich an den Mund.
"Ähm Philip, würdest du bitte davon absehen, schon am frühen Morgen Bier zu trinken? Dein Geisteszustand hat ohnehin einen bedenklichen Tiefpunkt erreicht."
"Lissi, ohne ein Bier würde mein Geisteszustand noch einen viel bedenklicheren Tiefpunkt erreichen."
Er nahm noch einen Schluck, dann verließ er die Küche wieder. Ich drehte den Hahn auf, bis das Wasser heiß wurde. Dann hielt ich eine Teetasse darunter und warf einen Beutel hinein. Irgendwie so musste es ja gehen.

Es ging natürlich nicht. Und der weitere Tagesverlauf auch nicht. Philip und ich saßen die ganze Zeit im Bett und warteten darauf, dass irgendjemand ins Zimmer kam. Es kam aber niemand. War Englands Bevölkerung vielleicht über Nacht ausgerottet worden und nur Philip und ich hatten überlebt? Ich sah zu Philip herüber, der sein zweites Bier öffnete — ein schrecklicher Gedanke. Außerdem knurrte mir schon wieder der Magen.

Dann kam ich auf die Idee, das Haustelefon zu benutzen und alle Nummern durchzuwählen. Irgendjemand musste ja abnehmen. Nach zehn Minuten hatte ich tatsächlich Erfolg.
"Ja, bitte?"
"Ja, hallo, hier ist die Queen. Mit wem spreche ich?"
"Mit James."
"Aha. Würden Sie bitte die Freundlichkeit haben, mal Ihre faulen Gebeine in die Küche zu bewegen."
"Nun ja, ich bin nicht in der Küche angestellt, sondern im Stall."
"Dann schicken Sie bitte jemanden aus der Küche. Ich habe Hunger."
"Das könnte schwierig werden."
"Was soll das heißen?"
"Na ja, es sind alle schwer beschäftigt."
"Womit denn bitte?"
"Na Ihr Enkel heiratet doch am Freitag und da muss noch so viel vorbereitet werden."Allmählich dämmerte es mir.
"Na und? Das ist immer noch mein Haus."
"Ich gucke, was ich machen kann. Bitte entschuldigen Sie mich jetzt, ich muss die Kutsche polieren, damit sie am Freitag schön glänzt."
Dann legte er auf.

Ich berichtete Philip von dem Gespräch.
"Diese bescheuerte Hochzeit", sagte ich. "Alle haben nur diese bescheuerte Hochzeit im Kopf. Mein Gott, was soll daran so besonders sein? Ein Mann heiratet eine Frau und nach sieben Jahren lassen sie sich scheiden."
"Sie sind doch noch jung und romantisch. Lass Sie doch in dem Glauben."
"Ihr Leben wird eine einzige Aneinanderreihung von Protokollen sein. Und nun wird mir auch klar, warum schon auf meinem 85. Geburtstag alle immer ständig auf die Uhr geguckt haben. Weil die eigentlich keine Zeit hatten und weiter die Hochzeit vorbereiten wollten.""Das musst du aber doch verstehen. Du bist eben nicht glamourös genug."
"Bitte was?"
"Du bist alt, ich bin alt und außerdem bescheuert."

So diskutierten wir eine Weile weiter, bis mein Magen sich erneut meldete. Ich hielt es nicht mehr aus. Erneut rief ich mit dem Haustelefon an, aber niemand hob hab.

Ich will es kurz machen: Ich verletzte mich bei dem Versuche, eine Dose Ravioli zu öffnen, schwer, dann versuchte ich Charles anzurufen, aber der meinte, er spiele gerade mit William Poker, das sei irre spannend und sie seien sich menschlich gerade so nahe. Schließlich warfen wir noch ein paar Toasts in den Toaster, verbrachten den Tag im Bett und guckten alte Folgen von Coronation Street. Morgen aber lasse ich mir das nicht mehr gefallen.

Donnerstag, 28. April

Heute machte ich eine schreckliche Entdeckung: Es gab keinen Toast mehr und auch keine Diät-Marmelade. Es gab überhaupt nichts mehr zu essen. Und Bedienstete, die mir helfen wollten, schon gar nicht. Mit dieser Nachricht kehrte ich ins Schlafzimmer zurück.
"Steht denn noch Bier im Kühlschrank?", fragte Philip.
"Musst du denn immerzu an Bier denken? Ich brauche meinen Tee und mein Toastbrot."
"Warum rufst du nicht Charles an, ob der was für dich einkauft?"
"Weil der gerade nur Augen für seinen Sohn hat. Der ist überhaupt nicht ansprechbar."
"Dann bleibt uns nur noch eines: Du musst einkaufen gehen."
"Was bitte? Ich bin die Queen, ich gehe nicht einkaufen. Das würde doch sofort einen Massenandrang geben."
"Lass dich doch vom Chauffeur fahren. Der lässt dich dann kurz raus, du holst deinen Toast und schon bist du wieder hier."

Es blieb mir nichts anderes übrig. Ich machte mich auf den Weg zu meinem Fuhrpark. Unterwegs kam mir mein Chauffeur entgegen.

"Gut, dass ich Sie treffe. Sie müssten mich mal kurz in den Supermarkt fahren."
"Das ist gerade ganz schlecht."
"Warum das?"
"Ich putze gerade den Fuhrpark, damit die Wagen schön blitzen in der Sonne."
"Für die Hochzeit von Kate und William?"
"Na klar, für was sonst?"
"Und da ist kein Auto dabei, mit dem Sie..."
"Sorry, aber ich muss auch schon wieder weitermachen. Entschuldigen Sie bitte."
"Ich brauche doch nur jemanden, der mich kurz in den Supermarkt fährt."
"Ach, da können Sie auch laufen. Einfach raus durchs Haupttor, 300 Meter geradeaus und dann links halten. Das können Sie gar nicht verfehlen."

Und so lief ich, die Königin von Großbritannien und Nordirland, zum Supermarkt. Zu Fuß. Ich. Die Königin von Großbritannien und Nordirland. Ängstlich setzte ich meine ersten Schritte alleine in diese Welt, die ich sonst nur in Begleitung kannte oder aus dem Blick durch das Fenster meiner Limousine. Ich erwartete, dass sich die Londoner und Journalisten sofort auf mich stürzen würden vor Begeisterung. Dass sie sich vor mir niederwerfen würden. Einen Hosianna-Gesang anstimmen würden, den ich mein Lebtag nicht vergessen würde. Stattdessen taten sie nichts — sie gingen einfach an mir vorbei. Ich war entsetzt. Kaum fuhr ich mal nicht in meinem Prunkwagen an den Leuten vorbei, erkannten sie mich nicht. Mein positives Bild von meinen Untertanen wandelte sich schlagartig.

Und dann betrat ich den Supermarkt. Zum ersten Mal seit 85 Jahren. Mein Gott, was für ein Trubel. Als ob es ab morgen nichts mehr zu essen geben würde. Ich ließ mich durch die Gänge treiben. Kam an Bananen vorbei und Babywindeln und eingemachten Gurken. Und dann geschah das Unglück. Ich stieß mit dem Arm gegen einen Stapel Konserven und mindestens zehn davon krachten auf den Boden. Ich sah schon die Schlagzeilen vor mir "Queen zu blöd zum einkaufen" und "Wie vergreist ist unsere Königin?". Da kam auch schon der Filialleiter angelaufen in seinem Kittel.

"Junge Frau, was machen Sie denn da?", sagte er verärgert, schob mich zur Seite, um die Konserven wieder auf den Stapel zu setzen und verschwand wieder.
Zunächst war ich verärgert — die Königin von Großbritannien und Nordirland schiebt man nicht einfach beiseite. Aber dann wurde mir klar: Auch der Filialleiter hatte mich nicht erkannt. Weil ich in den Tagen vor der Hochzeit von Kate und William wie Luft war, weil sich alle bloß für das Brautpaar interessierten und mich ignorierten. Das hatte zur Folge, dass ich mich um alles selbst kümmern musste, aber eben auch, dass ich tun und lassen konnte, was ich wollte, ohne dass jemand darauf achtete. Nicht mein Butler, nicht mein Arzt, meine Köchin, mein Chauffeur, mein Volk.

Als erstes stellte ich die Diätmarmelade, die bereits im Einkaufswagen lag, zurück ins Regal. Das Zeug hatte mir noch nie geschmeckt. Dafür warf ich drei Gläser Erdnussbutter und ein Glas Nutella in den Wagen, vier Tafeln Schokolade, Cheese-And-Onion-Chips, Milchbrötchen, Cognac, Schinkennudeln, Kaugummi aus der Tube. All das, was ich sonst nie essen durfte, weil die Leute in meinem Umfeld tierisch um mein Wohl besorgt waren. Ich schob den vollen Einkaufswagen zurück in den Buckingham Palace, kippte die Inhalte neben das Bett und erzählte Philip von meinen Erkenntnissen.
"Ach ja", sagte er, "diese Narrenfreiheit habe ich ja schon längst. Ich kann es dir nur empfehlen."

Es wurde ein sehr schöner Donnerstag. Ich leerte drei Tüten Chips, spülte mit Cognac nach, wärmte mir die Schinkennudeln in der Mikrowelle auf. Zur Unterhaltung sahen wir uns auf DVD die schönsten Luftschlachten des Zweiten Weltkriegs über dem Ärmelkanal an. Und endlich hatte ich die Zeit, mir die 32-teilige Monty-Python-Box anzugucken. Was für ein herrlich bescheuerter Humor. Philip verschluckte sich jedesmal beim Lachen und ich fuhr mit dem Finger durchs Nutella-Glas. Morgen wollen Philip und ich einen Boxkampf besuchen. Ich kann keine Pferderennen mehr sehen.

Die nächsten Tage werden toll. Aber nur für uns.

Freitag, 29. April

Haha.

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