Die "Wahrheit" in Sozialen Netzwerken Lasst die Blasen platzen!

Düsseldorf · Das Netz hat lange den Horizont erweitert. Heute verengt es ihn. Jeder bekommt vorgesetzt, was er sehen, lesen, hören will – und radikalisiert sich so. Das hat sich auch auf die Präsidentschaftswahlen in den USA ausgewirkt.

 Über soziale Netzwerke wie Facebook verbreiten sich Meldungen - unwahre sind dabei kaum von wahren zu unterscheiden.

Über soziale Netzwerke wie Facebook verbreiten sich Meldungen - unwahre sind dabei kaum von wahren zu unterscheiden.

Foto: rtr

Das Netz hat lange den Horizont erweitert. Heute verengt es ihn. Jeder bekommt vorgesetzt, was er sehen, lesen, hören will — und radikalisiert sich so. Das hat sich auch auf die Präsidentschaftswahlen in den USA ausgewirkt.

Einer der Gründe für den Wahlsieg von Donald Trump — wenn auch nicht der Grund und wohl auch nicht der wichtigste — sind Schlagzeilen wie "Papst Franziskus spricht sich für Donald Trump aus", "Barack Obama gibt zu, in Kenia geboren worden zu sein" und "Clinton will Bürgerkrieg ausrufen, falls Trump gewählt wird". Entdeckt hat sie der Medienforscher Joshua Benton auf dem Facebook-Profil des Bürgermeisters seiner Heimatstadt in Louisiana.

Unmöglich zu sagen, wie viele Nutzer sie für echte Nachrichten gehalten haben. Aber die Masse macht's: Im Endspurt der US-Wahl waren die 20 erfolgreichsten "News" ohne jeden Realitätsbezug bei Facebook erfolgreicher als die erfolgreichsten wahren Beiträge von New York Times und NBC, Buzzfeed oder Huffington Post. Und indem sie sie unter eigenem Namen verbreiteten, schienen Menschen wie der Bürgermeister für ihre Richtigkeit zu bürgen.

In einem Klima an Angst und Frust, Wut und Hass waren "News" ohne jeden Realitätsbezug extrem erfolgreich, und zwar einseitig zugunsten von Donald Trump. Gerade deshalb unternahm Facebook nichts dagegen — aus Angst vor dem Vorwurf der Zensur und politischen Einflussnahme.

Mit anderswo verschwiegenen Fakten konfrontiert

Hier ist nicht die Rede von zugespitzten politjournalistischen Meinungsäußerungen, die einem gefallen können oder nicht, und auch nicht von tragikomischerweise missverstandenen satirischen Beiträgen à la Postillon, Tagespresse oder The Onion. Oft ging es nicht einmal um Propaganda — sondern um eine völlig unpolitische Masche zur schnellen Geldmacherei durch Werbebanner neben den Fakes.

Das könnte man die zweite Stufe der Netz-Öffentlichkeit nennen. Sie ist ein gewaltiger Rückschritt hinter die erste Stufe, die eine Befreiung der politischen Öffentlichkeit bedeutet hatte. In der Offline-Welt hatte aus dem breiten Spektrum nicht nur zwischen "taz" und "FAZ", sondern der marxistischen "Jungen Welt" links und der "Jungen Freiheit" rechts, jeder das Medium gewählt, das seiner politischen Haltung entsprach.

Mit dem Aufkommen des Internet ergab sich plötzlich auch die Möglichkeit, parallel verschiedene Homepages aufzurufen. Wer auch nur über ein Minimum an Neugier verfügt, wurde nun mit Meinungen und anderswo verschwiegenen Fakten konfrontiert, die mit dem eigenen Weltbild kollidierten, es infrage stellten und im besten Falle gen Realität austarierten.

Diese Zeiten sind unwiderruflich vorbei, denn Homepages sind out. Immer häufiger dient nicht der Browser als Tor zur Welt, sondern die eigenen "Timelines" in den Sozialen Medien, wo einem ohne jeden Kontext Schnipsel, Schlagzeilen, Zitate und Zahlen vorgesetzt werden. Ganz nach Gusto der geheimen Algorithmen der Internetgiganten, die nicht unterscheiden zwischen Journalismus, Satire und Hirngespinsten ohne Realitätsbezug.

Hier zeigt sich die Schattenseite der Egalität des Netzes: Content ist Content ist Content, und: Ein Absender ist ein Absender ist ein Absender. Nichts unterscheidet den Tweet eines weltweit führenden Forschers von dem eines gelangweilten Teenagers, psychisch kranken Junkies oder einer automatisierte Propaganda-Schleuder ("Bot") — wie "Joe_America1776", der jeden Tag mehr als 400 Tweets in die Welt schickt (sehen Sie selbst).

Realitätsbezug ist irrelevant geworden — und Relevanz selbst kein normativer Wert, "nicht mehr mit einer "Idee von 'wissen sollen' (…) verbunden. Relevant ist schlicht alles, was den Nutzer zu einem weiteren Klick verleitet", schrieb die "Zeit" schon 2011, als der Netzaktivist Eli Pariser erstmals vor den "Filter Bubbles" warnte, Filterblasen, die als Folge um jeden User herum entstehen, ungefragt, unbewusst und vollautomatisch.

Die Welt, wie Nutzer sie gern hätten

Facebook und Twitter, aber auch Google zeigen die Welt nicht, wie sie ist — sondern so, wie ihre Nutzer sie gern hätten. Doch das führt eben nicht zur allgemeinen Beruhigung, sondern im Gegenteil zu Hysterie und einer Spaltung der Gesellschaft, weil wir uns mit politisch Andersdenkenden kaum noch auf etwas einigen können. Gerüchte, Spekulationen und reine Erfindungen lassen sich immer schwerer von Fakten unterscheiden und haben für viele denselben Stellenwert erlangt, nach dem Motto: Erlaubt ist, was ich glauben will.

Die Internetgiganten sind nicht nur unwiderstehlich wie Türsteher, sondern auch diskret wie gute Butler. Sie wissen genau, was uns irritiert, und lassen zusehends weniger zu, dass es uns überhaupt erst unter die Augen kommt. Denn Irritation ist schlecht für ihr Geschäft. Gut ist, was uns bestätigt in unseren Annahmen über Gut und Böse. Die Logik ist erbarmungslos: Ein angesehenes Katzenvideo ist gut. Aber besser ist eine zulasten von Flüchtlingen (oder Rechten, oder Linken, oder wem auch immer) gefälschte Kriminalstatistik, die das Blut in Wallung bringt und zu Interaktion führt, etwa einem eigenen Kommentar dazu, der wiederum weitere Klicks und Likes und Shares provoziert.

Je öfter wir uns entscheiden, die uns vorgesetzten Inhalte anzuklicken, darauf zu reagieren oder ihn sogar unter eigenem Namen zu teilen, desto besser verstehen Facebook und Google, was wir lesen und hören wollen. Was uns lachen lässt, worüber wir uns aufregen, wovor wir Angst haben.

Ausnahmen werden zur Regel

Und je besser sie das wissen, desto mehr gaukeln sie uns vor: Die Welt ist so, wie wir sie empfinden, und nicht anders. So werden die einen darin bestärkt, dass auf deutschen Straßen bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten — die anderen darin, dass jeder einzelne Flüchtling ein unendlich dankbarer Facharbeiter ist und kein einziger ein Dieb, Vergewaltiger oder mutmaßlicher islamistischer Massenmörder.

Sandra glaubt, Ausländer hätten einen Bonus bei Polizei und Justiz, weil die unter allen Umständen vermeiden wollten, als diskriminierend zu gelten, als Ausländerfeinde, als "Nazis". Und je mehr sie darüber liest und schreibt, desto eher werden ihre Suchanfragen in diese Richtung vervollständigt und desto mehr Beispiele für solche Missstände füllen ihre Facebok-Timeline. Hussein glaubt das Gegenteil — arabisch oder afrikanisch aussehende Menschen würden überproportional oft "zufällig" kontrolliert und verdächtigt und vor Gericht härter bestraft — und auch ihm gibt Facebook Recht.

Beides ist korrekt, aber als Ausnahmen von der Regel. Doch Mike und Hussein leben in Welten, die davon überproportional überschattet sind. Welten, in denen die Ausnahmen zur Regel geworden sind. Welten, die wenige Berührungspunkte mit der Realität haben und keine miteinander.

"Poppers Albtraum"

So werden unser aller Weltbilder zementiert. Tag für Tag radikalisieren sich nicht nur Islamisten, sondern auch Islamfeinde. Veganer wie Fleischesser, Fans von Dortmund und Schalke, VW und Opel. Und auch diejenigen, deren Welten wenige bis gar keine Berührungspunkte mit der Realität haben, weil sie "Reichsbürger" sind oder daran glauben, dass die Erde eine Scheibe ist oder hohl oder beides, dass sie durch "Chemtrails" vergitet und von Reptiloiden unterjocht werden, Dinosauriern in Menschengestalt.

Der Medienforscher Gerret von Nordheim hat Tweets zum Amoklauf von München analysiert — und eine Struktur entdeckt, die aussieht wie zwei unterschiedliche Sternensysteme, "zwei in sich geschlossene, parallele Deutungswelten". Und das, obwohl Twitter mit weniger Algorithmen auskommt, die Inhalte vorsortieren, priorisieren und uns im Zweifel komplett vorenthalten. "Poppers Albtraum" nennt von Nordheim das. Der Philosoph Karl Popper hatte gehofft, dass sich die Einsicht durchsetzt, "dass ich mich irren kann, dass du recht haben kannst und dass wir zusammen vielleicht der Wahrheit auf die Spur kommen werden."

Sowohl Google als auch Facebook hatten versucht zu argumentieren, "Fake News" seien kein Problem, das etwa die US-Präsidentschaftswahl signifikant beeinflusst hätte, doch nicht zuletzt unter Mark Zuckerbergs eigenem, schwachen Post dazu ballte sich die Nutzerkritik.

Immer lauter wurden die Rufe derjenigen, die den Sozialen Medien Scheinheiligkeit vorwarfen: Für die Demokratiebewegungen im "Arabischen Frühling" wollten sie mit verantwortlich sein, nicht aber für die Wahl von Donald Trump zum mächtigsten Mann der Welt, für den Brexit und den Aufstieg rechts- wie linkspopulistischer Bewegungen in Griechenland, Polen, Frankreich, Deutschland?

Mitte der Woche knickten sowohl Facebook als auch Google ein, als externer Druck wie auch interne Revolten zu groß wurden: Man werde das Thema offensiv angehen und Anbietern von "Fake-Nachrichten" nicht länger erlauben, sich an von ihnen vermittelter Werbung zu bereichern, hieß es reumütig. Besser spät als nie, könnte man sagen, aber auch: Zu spät für diese Wahl.

Die "News"-Seite des Suchmaschinengiganten hatte Nutzern versehentlich vorgegaukelt, Donald Trump habe nicht nur mehr Wahlmänner, sondern auch mehr tatsächliche Wählerstimmen gewinnen können als Hillary Clinton; bei Facebook zirkulierten groteske Gerüchte über Hillary Clinton bis hin zu von ihr angeblich begangenen Morden. Mehrere Dutzend pseudo-journalistischer Seiten, die derlei Beiträge verbreiten, werden von Jugendlichen in der mazedonischen Kleinstadt Veles betrieben, die das Werbe-Duopol von Google und Facebook für sich ausnutzen. Hunderttausende, wenn nicht Millionen Klicks und beachtliche Werbeeinnahmen sammelten sie mit Seiten wie UsaNewsFlash.com, 365UsaNews.com, usadailypolitics.com oder WorldNewsPolitics.com.

So etwas zukünftig zu unterbinden, ist keine Zensur. Es ist unabdingbar für das Funktionieren unserer Demokratie, weil die Medienkompetenz zu vieler Nutzer, gegen Null tendiert. Das ist kein selbstgerechtes Journalistengerede: Die Qualität einer Quelle hängt nicht von ihrer Historie ab; im Gegenteil: Journalist ist keine geschützte Berufsbezeichnung. Wer nach journalistischen Standards arbeitet, ist auch Journalist. Deshalb dürfte die Lösung auch nicht in der Einführung von journalistischen Beiräten für Facebook und Co. liegen. Besser und nachhaltiger wäre, wenn die Schwarmintelligenz die Schwarmdummheit besiegt — und insbesondere Facebook endlich auf diejenigen hört, die bislang vergeblich etwa Hasspostings anprangern. Vermeintliche von echten Nachrichten zu unterscheiden, ist nicht schwer. Man muss es nur tun, bevor es zu spät ist.

(tojo)
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