Umstrittener Messengerdienst Die zwei Seiten von Telegram

Analyse | Berlin · Geschütztes Kommunikationsmittel für Bürger in Diktaturen, hierzulande Kanal für Hass, Hetze und Gewalt: Die Bundesregierung und der NRW-Verfassungsschutz haben Telegram auf dem Kieker. Droht dem Messenger-Dienst das Aus?

 Die Telegram-App auf einem Smartphone.

Die Telegram-App auf einem Smartphone.

Foto: dpa/Fabian Sommer

Es schien wie ein Einlenken nach wochenlangem Druck der Bundesregierung: Mit der Nachricht, dass der Messenger-Dienst Telegram 64 deutsche Kanäle wegen Hassbotschaften gelöscht hat, hatten manche gar nicht mehr gerechnet. Lange stellte sich das russische Unternehmen mit Sitz in Dubai stur, lange war nicht einmal eine postalische Anschrift bekannt, ganz zu Schweigen von Kooperationsabsichten auf politischer Ebene. Jetzt gab man dem Druck des Innenministeriums und des Bundeskriminalamts (BKA) nach, sogar zwei Treffen soll es gegeben haben zwischen Telegram-Gründer Pawel Durow und Regierungsvertretern.

 Gut so, lautet die einhellige Meinung – ist Telegram doch diese Problem-Plattform, auf der Todeslisten von Politikern geteilt, Corona-Lügen verbreitet, Drogen verkauft und andere Straftaten begangen werden. Und zwar im Gegensatz zu anderen Medien komplett unmoderiert und unkontrolliert, was besonders seit Beginn der Pandemie zum Problem wurde: Nach Ansicht des NRW-Verfassungsschutzes ist Telegram längst „die zentrale Kommunikationsplattform zur Verbreitung ungefilterter ideologischer Inhalte sowie zur Mobilisierung für Protestveranstaltungen“. Von weit über 100.000 Abonnenten mit überregionalem oder regionalem NRW-Bezug spricht die Behörde; etwa 300 Personen seien im Land als „organisatorische und ideologische Akteure“ relevant, rund 20 seien in der engeren Beobachtung der Verfassungsschützer.

Diese Geschichte gibt es auch zum Hören - exklusiv für Sie. Abonnieren Sie jetzt unsere RP Audio-Artikel in Ihrer Podcast-App!

Die Vorteile des Dienstes liegen auf der Hand: In geschlossenen oder öffentlichen Gruppen können bis zu 200.000 Personen miteinander chatten, in Kanälen können die Betreiber ihre Botschaften an eine unbegrenzte Zahl von Abonnenten senden. Fake News, Rechtsradikalismus, Gewaltaufrufe oder illegale Angebote verbreiten sich quasi ungebremst und effizient. Michael Ballweg, Gründer der „Querdenker“-Szene nannte die App einmal „einen der zentralen Erfolgsfaktoren“ seiner Bewegung.

Für Matthias Kettemann, Professor am Leibniz-Institut für Medienforschung, ist das Phänomen Telegram ein Zeichen der Zeit – der Rechtswissenschaftler forscht seit Jahren zu Plattformrecht und staatlicher Regulierung privater Räume, dem „Recht des Internets“. Dass heute Firmen Kommunikationräume schaffen, wo sie eigene Regeln festlegen und vor allem versuchen, für Nutzer attraktiv zu sein, hält er für eine Herausforderung. „Viele sehen die Folgen für Gesellschaft und Demokratie nicht ab. Der rechtsstaatlichen Kontrolle kommt zwar immer mehr Bedeutung zu, Telegram grätscht aber gerade bewusst in diesen Prozess hinein“, so Kettemann. Den Dienst ganz abzuschalten, hält er aber weder für verfassungsrechtlich möglich noch für gerechtfertigt – ein Großteil der kommunikation sei dort legal, die Folgen für die Meinungsäußerungsfreiheit wären enorm. Zudem sei Telegram in autoritären Staaten wie Russland, Belarus oder Ägypten gerade für den Erhalt demokratisch-freiheitlicher Prozesse wichtig.

 Was paradox klingt, wird anhand der Gründungsgeschichte des Unternehmens einleuchtend: Pawel Durow, wahlweise als Phantom oder russischer Mark Zuckerberg bezeichnet, ist der Mann hinter Telegram. Der 37-jährige gilt als unnahbar und einer der reichsten Menschen in seiner Wahlheimat Dubai – Forbes schätzt sein Nettovermögen auf 17,2 Milliarden US-Dollar. Das Magazin beschrieb ihn in einem langen Porträt als „Ingenieur eines eigenen Universums“, stets auf der Suche nach Einfluss und globaler Anerkennung. Zusammen mit seinem älteren Bruder Nikolai Durow, zweifach promovierter Mathematiker und Programmierer-Genie, erfand Pawel Durow, der Stratege, bereits den russischen Facebook-Klon „Vkontakte.ru“, heute vk.com – und zog damit den Zorn des Kremls auf sich. Als die russische Regierung ihn 2014 dazu aufforderte, die Seite des Regierungskritikers Alexei Nawalny zu sperren, weigerte sich Durow – und veröffentlichte verschiedene Dokumente stattdessen auf seinem eigenen VK-Profil. Er verließ Russland und lebt seither in Dubai.

 Doch das Rebellen-Image ist elementarer Teil des Telegram-Gründungsmythos, den Durow in einem seiner seltenen Interviews der „New York Times“ (NYT) unterbreitete: Als eine russische Spezialeinheit vor seinem Haus in St. Petersburg gestanden habe, sei ihm die Notwendigkeit eines sicheren Kommunikationskanals klar geworden – den ihm sein Bruder daraufhin programmiert habe. Es scheint widersinnig, dass Durow sich selbst als friedlicher Mensch gibt, der Vegetarier ist und Kriege nicht mag (NYT) – aber zugleich Hass und Hetze unreglementiert geschehen lässt in seinem Telegram-Imperium. Die konsequente Deregulierung scheint aber genau das Konzept des durowschen Freiheitsbegriffes. Für sein demokratisches Verständnis spricht auch, dass Durow nach dem Sturm aufs Kapitol in Washington eine für ihn ungewöhnliche Stellungnahme auf Telegram abgab: Er verurteilte die Ereignisse und erklärte, dass Moderatoren Hunderte Aufrufe zur Gewalt geblockt hätten.

Zugeständnisse dieser Art aber sind selten, auch die gegenüber der deutschen Regierung waren nicht selbstverständlich – für Medienrechtler Kettemann aber sind sie nur folgerichtig: „Es war absehbar, dass sie früher oder später einknicken vor dem Druck der Bundesregierung“, so der Experte. „Herr Durow braucht ein nachhaltiges Konzept, auch um seine monetären Vorhaben umsetzen zu können.“ Kettemann glaubt, dass es längst Pläne gibt, Telegram mit mit Onlinewerbung und bezahlten Inhalten zu füllen, wie es anderen Plattformen längst tun – nur im größeren Stil, mit weniger Kunden und Millionensummen als Mindestpreis. „Deshalb konnte es dem Unternehmen nur ein Anliegen sein, sich nicht mit großen europäischen Rechtsstaaten anzulegen“, so Kettemann. Kooperation mit mit behördlichen Strafenzu erzwingen, wäre die andere Option gewesen, sie hätten nur länger gedauert.

Insofern wird beides auf längere Sicht wohl eine Art Kompromiss bleiben, ein taktisches Manövrieren beider Seiten: Telegram wird in geringem Umfang, eher scheibchenweise rechtsstaatlichen Anforderungen genüge tun und einzelne Löschanfragen von Regierungen nachkommen. Aber das Unternehmen wird an seiner Grundidee festhalten, geschützter Kanal für Kritiker zu sein und nicht plötzlich vom Markt verschwinden – sondern eher weiter wachsen. An Geld mangelt es dem Gründer schließlich nicht, an unternehmerischem Geltungsdrang und an Bedeutung erst recht nicht – mit einer halben Milliarde Nutzern weltweit.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort