Crowdfunding Das Internet wird erwachsen

Düsseldorf · Die Netzgemeinde sammelt längst mehr als Wissen. Zuletzt 300.000 Euro für einen Mann in Detroit, der mangels Auto und Bus meilenweit zur Arbeit läuft – und parallel 450.000 für einen behinderten britischen Rentner. Das zeigt: Das Internet wird erwachsen.

Detroit: James Robertson bekommt ein Auto geschenkt
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James Robertson bekommt ein Auto geschenkt

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Die Netzgemeinde sammelt längst mehr als Wissen. Zuletzt 300.000 Euro für einen Mann in Detroit, der mangels Auto und Bus meilenweit zur Arbeit läuft — und parallel 450.000 für einen behinderten britischen Rentner. Das zeigt: Das Internet wird erwachsen.

Für James Robertson war es die logischste Sache der Welt. Sein Auto hatte den Geist aufgegeben, ein neues konnte er sich nicht leisten. Also lief der heute 56-jährige Metallarbeiter aus Detroit von diesem Tag an zur Arbeit. 34 Kilometer, Tag für Tag. Weil es kaum noch Busse gibt. Wegrationalisiert. Er lief und lief. Bei Regen, Hagel, Schneesturm. Länger als seine Acht-Stunden-Schicht dauerte. Trank literweise Cola im Gehen. Schlief nur zwei, drei Stunden pro Nacht und dafür das Wochenende fast durch. Und fehlte nicht einen einzigen Tag.

In einem anderen, zivilisierteren Land als den USA wäre der Sozialstaat eingesprungen, in einer anderen Zeit hätte sich Robertson wohl sein Leben lang abgerackert. Anno 2015 aber passierte ein kleines Wunder.

Mehr als Likes und warme Worte

Die wahre Gruselgeschichte dieses durch und durch analogen Mannes traf im Netz einen Nerv. Tausendfach wurde die Titelstory der "Detroit Free Press" bei Facebook geteilt. Doch es blieb nicht bei "Gefällt mir"-Daumen und warmen Worten. Dieses Mal nahm sich ein User vor, die Welle aus Bewunderung und Hilfsbereitschaft aus dem virtuellen Raum ins echte Leben zurückzuschicken.

Mehr als 300.000 Euro von Spendern aus aller Welt brachte die Crowdfunding-Aktion eines 19-Jährigen Studenten ein. Fast zeitgleich kamen knapp 450.000 Euro für die Unterstützung von Alan Barnes zusammen: der mehrfach behinderte britische Rentner wollte nach einem Überfall keinesfalls zurück in seine Wohnung, hatte aber auch kein Geld für einen Umzug — bis eine 21-jährige Kosmetikerin online um Spenden für ihn trommelte. Kurz zuvor hatten Leser des Blogs "Humans of New York" rund eine Million Dollar für eine Schule in einem Problemviertel in New York City gesammelt.

Dass Menschen im World Wide Web einander helfen, ist alles andere als ein neues Phänomen. Altruismus ist wortwörtlich Teil seines Gründungsmythos: Schon bevor Struktur und Standards des Internet feststanden, fanden sich in Diskussionsforen Experten für Probleme aller Art.

Crowdsourcing klappt, wie Wikipedia beweist

Heute verlassen wir uns immer öfter auf Bewertungen anderer Nutzer — für Bücher, Filme, Restaurants, Hotels. Portale wie "WG-gesucht.de" helfen bei der Wohnungssuche, das über Facebook städteweise organisierte "Nett-Werk" verhilft für kleines Geld oder gratis zu den passenden Möbeln und bei "Neu in Düsseldorf" finden Gleichgesinnte fürs Kochen oder Sport, Spiele- oder Partyabende zueinander für das endgültige Ankommen in der neuen Stadt.

Bei Youtube kursieren Videos mit "Life Hacks" — Lösungen für die kleinen Ärgernisse des Alltags. Die Wikipedia zählt, bei allen Problemen, zu den größten Monumenten von Altruismus und langem Atem der Weltgeschichte überhaupt.

"Crowdsourcing" nennt sich das seit knapp einem Jahrzehnt, das "Anzapfen" der Schwarmintelligenz. Zum "Crowdfunding" war es dann nur noch ein kleiner Schritt — zumindest in der Theorie.

Crowdfunding war lange eine Sache für Fans und Nerds

Auf diese Art wurden in einer ersten Phase ganz überwiegend Projekte für Hardcore-Fans verwirklicht: Die Sympathie und das Vertrauen zu einer Band, einem Computerspiel-Entwickler, einem Regisseur mussten größer sein als das Ur-Misstrauen bei Geldgeschäften mit Fremden. Gegen Vorkasse. Über das Internet. In einer zweiten Phase kamen Nonsens-Projekte hinzu, die die digitale Bohème amüsieren und den Zeitgeist der Universal-Ironie treffen: Mit knapp 50.000 Euro aus aller Welt wurde beispielsweise Zack Brown zugeschüttet — um eine Schüssel Kartoffelsalat zu machen. Haha.

Die "ALS Ice Bucket Challenge" zugunsten Nervenkranker vor einem halben Jahr war eine Art Zwitter: Sie ließ hoffen, hatte den Klamauk um die Spendenaktion aber offensichtlich noch nötig.

So gesehen markieren die erfolgreichen Crowdfunding-Aktionen für James Robertson und Alan Barnes Anfang Februar 2015 einen neuen Abschnitt im Zeitalter des Internet: Es wird erwachsen.

Initiatoren und Begünstigte beweisen Demut

Für die jüngst Begünstigten gilt das schon lange: Der Dauerläufer James Robertson wollte die in Anerkennung seiner beeindruckenden Disziplin und Bescheidenheit gesammelten 300.000 Euro partout nicht annehmen, sondern damit lieber den Nahverkehr ausbessern. Nun kümmert sich ein Team von Bankern ehrenamtlich darum, dass das Geld sinnvoll in seinem Sinne eingesetzt wird. Für den Kauf eines Autos geht davon nichts drauf: das hat ein örtlicher Händler übernommen.

Alan Barnes hat dafür gesorgt, dass die Aktion in seinem Namen gestoppt wurde und denkt ebenfalls darüber nach, wie die knapp 450.000 Euro am Besten eingesetzt werden können, um anderen zu helfen. Und dann ist da noch Katie Cutler, die 21-jährige Kosmetikerin, die Barnes zuvor nicht gekannt hatte: "Ich dachte, vielleicht bekommen wir ein paar hundert Pfund für neue Teppiche und Vorhänge in seiner Wohnung, das wäre doch nett, einfach um ihm zu zeigen, dass es Menschen gibt, die Anteil nehmen."

Sie weigert sich, Geld anzunehmen, das als Dank für ihre gute Tat für sie gesammelt worden ist. Nur das Angebot eines kostenlosen Haarschnitts hat sie angenommen — nachdem der Friseur zugestimmt hatte, dass er ihrer Oma zugutekomme. Als sei es die natürlichste Sache der Welt.

Dieser Text ist zuerst in der Sonntagsausgabe der Rheinische Post App für iPads und Android-Tablets erschienen. Mehr dazu unter www.rp-app.de

(tojo)
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