RP Plus Giftige Dämpfe machen Schüler krank

Düsseldorf (RPO). Trotz alarmierender Hinweise wird die Gefahr, die von Flüchtigen Organischen Verbindungen (VOC) ausgeht, bislang unterschätzt. Grenzwerte und einheitliche Messverfahren fehlen. In NRW sind vor allem Schulen und öffentliche Gebäude belastet. Was macht das Gift mit den Betroffenen? Ortstermin in der Eifel-Stadt Nideggen.

 Die 17-jährige Schülerin leidet zehn Jahren an einer Chemikalien-Unverträglichkeit (MCS). Im ersten Halbjahr 2011 war sie deshalb nur 14 Tage in der Schule.

Die 17-jährige Schülerin leidet zehn Jahren an einer Chemikalien-Unverträglichkeit (MCS). Im ersten Halbjahr 2011 war sie deshalb nur 14 Tage in der Schule.

Foto: Christoph Göttert

Anna* ist 17 Jahre alt. Sie besucht die elfte Klasse des Franken-Gymnasiums in Zülpich, an diesem Tag hätte sie Mathe, Philosophie, Englisch und Deutsch gehabt. Anna ist nicht zur Schule gegangen. Die junge Frau ist krank. Sie hat Kopfschmerzen und leichtes Fieber. Eine normale Grippe? Nein. Anna leidet an "Multipler Chemikalien Unverträglichkeit" (MCS) — eine Krankheit, die von giftigen Dämpfen in der Raumluft ausgelöst wird. Ihr Vater ist sich sicher: "Die Schadstoffbelastung in der Grundschule von Nideggen hat Anna krank gemacht."

Müdigkeit, Hautausschläge, Übelkeit. Die Beschwerden kehren regelmäßig wieder. Annas Immunsystem ist geschwächt, die 17-Jährige war in diesem Jahr häufiger krank, als dass sie am Unterricht teilnehmen konnte. Jetzt sitzt sie auf ihrem Bett und zeigt die Medikamente, die sie täglich schlucken muss. Anna wirkt niedergeschlagen. Ein normales Leben zu führen, dass ist für sie nicht möglich. "Am meisten nervt es mich, wenn über mich schlecht geredet wird. Ich kann ja nichts dafür, dass ich so oft krank bin", sagt Anna.

Alles begann im Jahr 2001. "Immer, wenn Anna aus der Schule kam, hatte sie rote Pusteln auf der Haut", sagt ihr Vater. Er bemerkt einen auffälligen Geruch in den Haaren seiner Tochter. Keine Einbildung — auch anderen Eltern sticht der Geruch in die Nase. Was ist die Ursache? Die Gemeinschaftsgrundschule "Burgblick" wurde 2000 neu errichtet. Eltern, Ärzte und Toxikologen stellten die Vermutung an, dass der neue Bodenbelag in der Schule der Grund des Übels sei. "Höchstwahrscheinlich wurde ein billiger Kleber verwendet, der mit dem Boden eine brisante chemische Verbindung eingegangen ist", sagt Sigrid Beer, Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen im Düsseldorfer Landtag.

Bundesweit sind etwa 5000 Schulen belastet

Die Grünen wollen, das solche Belastungen durch Flüchtige Organische Verbindungen endlich ernst genommen werden. "Kinder vor Schadstoffen in Kindertagesstätten und Schulen schützen", lautet der Titel eines Antrags, den die Ökopartei beim Landesparteitag in Emsdetten im Mai verabschieden will. Ein dringend notwendiger Schritt, findet auch Wolfgang Huber, Professor der Umweltmedizin in Heidelberg. "Etwa 5000 Schulen, die in den 60er und 70er- Jahren erbaut wurden, sind bundesweit stark durch PCB und Asbest belastet." Aber auch in neuen Schulen werden häufig Flüchtige Organische Verbindungen gemessen.

VOC-Werte bezeichnen organische, also kohlenstoffhaltige Stoffe, die leicht verdampfen und schon bei niedrigen Temperaturen als Gas vorliegen. Die NRW-Grünen fordern jetzt die Landesregierung dazu auf, die Regeln für Gefahrenstoffe zu überarbeiten und spezielle Grenzwerte für Heranwachsende zu definieren. Das NRW-Umweltministerium hat bereits angekündigt, einen landesweiten "Masterplan Umwelt und Gesundheit" zu erarbeiten. "Der Schutz von Kindern vor Belastungen durch Schadstoffe in Innenräumen muss ein zentraler Maßstab der Betrachtung werden", sagte Umweltminister Johannes Remmel (Grüne) im Gespräch mit RP Plus.

Das Bundesland Bayern hat bereits 2008 einen Leifaden zur "Schadstoffuntersuchung in Innenräumen" herausgegeben. Darin legt das Bayerische Landesamt für Umwelt fest, dass bei körperlichen Beschwerden von Schülern und Lehrern Raumluftuntersuchungen durchgeführt werden müssen. Eine solche Raumluftuntersuchung kann Aufschlüsse über die Schadstoffaufnahme und eventuelle Gesundheitsrisiken geben. Das Problem der fehlenden Grenzwerte bleibt jedoch bestehen. "Richtwerte haben keinen rechtsverbindlichen Charakter", heißt es in dem Leitfaden weiter.

Besondere Brisanz geht nach Einschätzung von Toxikologen von sogenannten Schadstoff-Cocktails aus. Immer wieder kommt es vor, dass sich in den Klassenräumen Gemische von VOC-Gasen bilden. Zum Beispiel, wenn — wie im Fall Nideggen — ein Kleber verwendet wird, der nicht geeignet ist. Eine gesundheiltiche Bewertung solcher Gift-Mixturen ist wegen der unzureichenden toxikologischen Daten fast unmöglich. Das Bayerische Umweltamt verweist daher lediglich auf die Empfehlungen der Innenraumlufthygiene-Kommission. Darin heißt es, dass "VOC-Werte von 1 — 3 mg/m3 auf Dauer nicht überschritten werden sollten".

Ein Lehrer, der sich beschwerte, wurde frühpensioniert

Die Städte und Gemeinden schieben die Problematik oftmals auf die lange Bank. Sanierungen sind sehr kostenintensiv und kratzen am Image der Kommunen. In Hagen musste die Heinrich-Heine-Realschule bereits ein halbes Jahr nach der Brandsanierung wieder die Umzugskisten packen. In den Klassenräumen wurde vermehrt der krebserregende Stoff Styrol festgestellt. In Ibbenbühren klagte ein Lehrer über starke VOC-Symptome und beschwerte sich bei der Schulleitung. Es folgte die Zwangsversetzung und anschließende Frühpensionierung. In Nideggen wurden immer wieder unterschiedliche toxikologische Messungen durchgeführt. Eine Lösung brachte das nicht. Ergab die eine Messung einen erhöhten Wert, wies ein weiteres Gutachten keine Grenzwertüberschreitungen auf.

Wieso hat sich trotz der alarmierenden Messergebnisse nie etwas getan? "Mir lagen verschiedenen Messungen, Gutachten und Ergebnisse vor, aus denen sich kein rechtlicher Handlungsbedarf ergab", erklärt Margit Göckemeyer, Bürgermeisterin der Stadt Nideggen. Auch die zuständige Bezirksregierung Köln sah keinen Grund, aktiv zu werden. "Die Aufarbeitung und Klärung des Falls liegt ganz klar beim Schulträger. Wir schreiten erst ein, wenn arbeitsrechtlicher Handlungsbedarf besteht", erläutert eine Sprecherin. Da aber der Bezirksregierung nur Berichte vorlagen, die keine Grenzüberschreitungen aufwiesen, sah auch sie keinen akuten Handlungsbedarf.

Viele Kinder mussten an anderen Schulen angemeldet werden

Die Eltern fühlten sich im Stich gelassen. Ihre Besorgnis stieß sogar oft auf Unverständnis. "Ernst genommen hat man uns nicht", erinnert sich Annas Vater. Vielen Betroffenen wurde unterstellt, sie seien psychisch krank. Der Vater entschied sich dazu, eine Interessengemeinschaft zu gründen, um für eine schnelle Sanierung der beiden Schulen zu kämpfen. Ohne Erfolg. Viele Eltern mussten ihre Kinder an anderen Schulen anmelden. Inzwischen hat die Firma "Nora Systems" reagiert. Die Vorgängerfirma hatte die Schulen in Hagen und Nideggen mit den gleichen Fußböden ausgestattet. Kostenlos verlegte der Hersteller nun in Hagen einen neuen Boden. Auf Anfrage von RP Plus wollte sich "Nora Sytems" nicht zu dem Fall äußern.

Trotz ihrer Krankheit hat Anna Pläne. "Ich will unbedingt mein Abitur machen. Das ist für mich im Moment das Wichtigste." An die zahlreichen Einschränkungen, die sie durch ihre vielen Erkrankungen in Kauf nehmen muss, hat sie sich inzwischen fast gewöhnt. Konkrete Pläne zu machen fällt ihr schwer. "Wenn ich mich auf etwas freue, kann ich mir fast sicher sein, dass ich dann im Bett liegen muss", erklärt sie. Anna hofft, dass anderen Kindern solche Leiden in Zukunft erspart bleiben. Die Schulwechsel und das häufige Fehlen in der Schule haben Anna isoliert. "Freundschaften aufrechtzuerhalten ist für mich nicht möglich. Irgendwann sind alle von meiner Krankheit genervt."

* Name von der Redaktion geändert.

(seeg)
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