"No Man's Sky" Das Spiel, das niemals endet

London · 18 Trillionen komplett erforschbare Planeten, keine Handlung, Ehrfurcht als Spielziel: Mit "No Man's Sky" revolutioniert eine Garagenfirma die milliardenschwere Games-Branche. Das Videospiel ist das genaue Gegenteil von "Pokémon Go".

Einen kompletten virtuellen Planeten - mit Kontinenten und Ozeanen, Wäldern und Wüsten, Pflanzen und Tieren, Klima und Lichtverhältnissen - hat noch niemand programmiert. In "No Man's Sky" gibt es nicht nur einen, einhundert oder eintausend solcher künstlichen, farbenprächtigen Welten, sondern 2 hoch 64, mehr als 18 Trillionen, also 18 mit 18 Nullen, ganz genau: 18.446.744.073.709.551.616. Das klingt abstrakt, aber jeden einzelnen dieser Planeten kann man wandernd, tauchend, schwebend erkunden - und auch in den Weiten des Weltalls überall dazwischen umherfliegen, handeln und gegen Raumpiraten kämpfen.

Ab Mittwoch auch bei uns erhältich

Damit ist "No Man's Sky" (ab Mittwoch für PlayStation 4 erhältlich, ab Freitag für PC) nicht bloß das größte Spiel aller Zeiten. Die buchstäbliche Simulation eines kompletten glaubhaften Universums ist Höhe- und Endpunkt der Videospiel-Gigantomanie zugleich. So groß, dass die Schauplätze aller anderen je zuvor produzierten Spiele in einem winzigen Bruchteil des Spielfelds von "No Man's Sky" locker Platz fänden.

Die meisten davon nehmen ohnehin kaum Raum ein, sondern bestehen bloß aus schlauchartigen, vorgegebenen Pfaden durch vorgegebene Levels. Die Möglichkeit zur freien Erkundung virtueller Welten war bislang die Ausnahme. Viele dieser sogenannten "Open World"- oder "Sandkasten"-Spiele sind Bestseller, erfordern aber auch große Investitionen: Legionen von Programmierern waren notwendig, um etwa für "Grand Theft Auto V" Los Angeles und Umland nachzubauen.

"No Man's Sky" pulverisiert diese Dimensionen. Es ist das Spiel, das den Maßstab "Größe" bedeutungslos werden lässt. Wohl nie wird es ein Spiel mit größerer Bewegungsfreiheit geben, und falls doch, würde es niemand spielen wollen. Denn schon "99,9 Prozent" von "No Man's Sky" werden niemals entdeckt werden, von niemandem, selbst wenn es Millionen Menschen weltweit kauften und lange spielten, sagt Sean Murray (35). Der schlaksige Ire hat das virtuelle Universum erdacht. Mit rund 15 Kollegen und Freunden, die wie er selbst 2009 ihre Jobs bei Branchenriesen schmissen, um in seiner Garagenfirma "Hello Games" in Guildford bei London zu arbeiten. Deren zweites Spiel "No Man's Sky" konterkariert die Erfolgsrezepte der Branche. Es ist ein Stubenhocker-Spiel, nicht mobil spielbar, und ohne jede Spur von "Augmented Reality", also Vermischung von Spiel- und echter Welt wie beim Welthit "Pokémon Go".

Preis liegt bei 60 Euro

Es ist nicht geeignet für Gelegenheitsspieler, sondern komplex, nicht gratis, sondern kostet mindestens 60 Euro.

Es ist originell, keine Fortsetzung und stützt sich nicht auf eine Lizenz wie die üblichen Bestseller über Superhelden, "Star Wars" oder Spitzensport. Es hat keinen Multiplayer-Modus - und für Einzelspieler bietet es keine Story, weil das in Murrays Augen zwangsläufig Einschränkungen mit sich bringt, Grenzen im Denken, wie ein Bauplan für Legosteine: "Ich war schon eine Million Mal Super Mario, um meine Prinzessin zu retten", sagt Murray. "Ich will etwas anderes." Offiziell ist das Ziel des Spiels, vom Rand des Universums ins Zentrum vorzudringen. Tatsächlich ist der Weg das Ziel. Pflanzen- und Tierarten sowie ganze Planeten darf der "Erst-Entdecker" dabei benennen.

Murray will die völlige Freiheit - die einschließt, dass sich jede Spielfigur gründlich verlaufen kann, dass sie vergiftet wird, erfriert oder explodiert. Ein "Tod" schickt sie zwar lediglich zurück zum letzten Speicherpunkt, doch die grundsätzlich große Verletzlichkeit soll Ehrfurcht lehren. Egoismus und Aggression werden sanktioniert: Computergesteuerte "Wächter" nehmen jeden Spieler ins Visier, der allzu rücksichtslos Rohstoffe abbaut, grundlos Tiere tötet oder andere Raumschiffe abschießt. Murray selbst kennt nur die Grundlagen des Spiels, die physikalischen Gesetze und Abhängigkeiten, Formen und Farben, Materialien und Muster sowie die Formeln für deren Variation - nicht aber das gesamte Ergebnis, die schon von Mr. Spock angestrebte "unendliche Vielfalt in unendlichen Kombinationen".

Die Dimensionen des nur sechs Gigabyte großen Spiels erreicht es mittels "prozeduraler Synthese": In Echtzeit wird alles berechnet, was ins Blickfeld des Spielers gerät. Lächerliche 1400 Zeilen Programmcode sind dafür notwendig, davon 120 für eine "Superformel" eines belgischen Biologen, mit der sich unter anderem die komplexen Formen von Seesternen, Kristallen und Schneeflocken beschreiben lassen.

Sternenhimmel über dem Outback

Aus diesem überschaubaren Code und dem Katalog "bastelt" das Spiel selbst seine Inhalte, wobei derselbe Planet zu jeder Zeit bei jedem Spieler identisch "entsteht". Ansatzlos, ohne jede Ladepause wechselt der Spieler dabei von Wasser zu Land ins Raumschiffcockpit, von der Planetenoberfläche durch die Atmosphäre ins All und von dort zu einer Raumstation oder zur nächsten Welt. Nichts ist bloße "Fototapete", das Sonnensystem hinter jedem Lichtpunkt erreich- und erforschbar. Wie spannend das Spiel jenseits der gelungenen Ästhetik mittelfristig bleibt, ist noch offen.

Zu "No Man's Sky" inspiriert hatten Murray der Sternenhimmel über dem australischen Outback, wo er aufwuchs, sowie die Titelseiten seiner Science-Fiction-Bücher. Beides in einem eigenen Universum zu verschmelzen war nicht nur wegen der hohen technischen Hürden schwierig: Die Firma, für die Murray sein Haus verkaufte, wurde 2013 überflutet. Er witzelte "Wenigstens müssen wir jetzt die Pflanzen nicht mehr gießen" - und schuf welche, die niemand jemals gießen muss: Virtuelle Blumen, die auch schöne Blüten haben.

(tojo)
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