Gamescom 2018 Sind Computerspiele tatsächlich Kunst?

Düsseldorf · Hunderttausende kommen wieder zur Gamescom nach Köln, um Computerspiele zu feiern und zu erleben. Manche tun das als simple, oberflächliche Unterhaltung ab. Oder handelt es sich doch um Kunst? Die Frage wird seit Jahren diskutiert. Es wird Zeit, eine Antwort zu finden.

 In den Gamescom-Tagen wird Köln zu einer Hochburg der Spieler und der Cosplayer, die sich als ihre Lieblingsfiguren aus der Gaming-Welt verkleiden.

In den Gamescom-Tagen wird Köln zu einer Hochburg der Spieler und der Cosplayer, die sich als ihre Lieblingsfiguren aus der Gaming-Welt verkleiden.

Foto: Gamescom

Die verstorbene US-Ikone der Filmkritik Roger Ebert war sich sicher: Computerspiele werden niemals Kunst sein. Auch andere Feuilletonisten räumen zwar ein, dass die Grafik bisweilen schön und der Soundtrack gelungen sei. Aber trotz der Qualität der Darbietung sind Games eben das, was der Name sagt: eine Spielerei. Und schon das mache klar, dass es sich nicht um Kunst handeln kann. Vor allem aber werde jede künstlerische Absicht durch das Interaktive zerstört.

Im Debattenmagazin „The European“ hat der Schriftsteller Sören Heim sich ebenfalls dagegen ausgesprochen, Games als Kunst zu verstehen. Dafür bemüht er Immanuel Kants Analyse des Ästhetischen: Der Betrachter stehe dem Schönen, also dem Kunstwerk, mit interessenlosen Wohlgefallen gegenüber. Zudem zitiert er Daniel Hemmens aus dem Online-Magazin Ferretbrain: In den Spielen nehme der „Betrachter“ eine aktive Rolle ein, er verfolgt ein Ziel und hat ein Interesse. Dazu nutzt er Spielmechaniken – was nichts anderes als ein Regelwerk sei. Wie beim Schach. Und so kunstvoll ein Schachbrett und seine Figuren gemacht seien, am Ende bleibe es ein Schachspiel. Es wird nicht zur Kunst. Und das gelte auch für Computerspiele. Allerdings schrieb Hemmens das im Jahr 2007. Seitdem hat sich viel getan und verändert in der Gaming-Welt.

Das große Problem an dieser Argumentation ist, dass der Begriff der Kunst verlagert wird: Nicht die Wirkung wird zum entscheidenden Kriterium gemacht, sondern die Art und Weise der Erfahrung. Der Grund ist klar. Über das, was ein Spiel im Spieler auslösen kann, lässt sich nicht diskutieren: Es ist eine individuelle Erfahrung, die niemand bestreiten kann. Also wird versucht, in der Debatte vorher anzusetzen: Bei der Frage, wie etwas erlebt wird. Überspitzt gesagt beurteilt man dann ein Buch nach dem Einband und dem Umblättern, aber nicht mehr nach dem Inhalt und dem, was er auslösen kann. Zumal mit Zitaten von Kant aus dem 18. Jahrhundert oder Hemmens aus dem Jahr 2007 ignoriert wird, dass der Kunstbegriff wandelbar ist.

Kritiker nannten Beatles 1964 „Könige der Anti-Musik“

Im 19. Jahrhundert konnten viele damalige Kritiker nichts mit den Impressionisten anfangen, weil sie mit der klassischen Malerei, dem Gewohnten und dem damaligen Kunstverständnis brachen. Heute sieht man das anders. Vor 30 Jahren lehnten Musik-Kritiker vieles ab, was nach einem Synthesizer klang. Nur Gitarrensounds waren „ehrliche, handgemachte Musik“. Mittlerweile hat sich die Einstellung verändert. Als die Beatles 1964 in den USA auftraten, schrieb der „Boston Globe“: „Sie sind so unglaublich schrecklich, so entsetzlich unmusikalisch, so dogmatisch unempfindlich gegenüber der Magie der Kunst, dass sie als gekrönte Häupter der Anti-Musik gelten.“ Würde das heute jemand behaupten wollen?

Das Verständnis von Kunst ändert sich mit der Zeit. Das Ziehen absoluter Grenzen ist darum genauso zielführend wie der Versuch, eine Drehtür zuzuschlagen. Doch woher kommt die Ablehnung der Computerspiele? Vielleicht ist es Unkenntnis, vielleicht auch die Distanz zum Medium. Ein Film, ein Musikstück, ein Konzert oder eine Oper und auch ein Buch fordern nur eins: die Zeit zum Zuschauen, zum Zuhören, zum Lesen. Bei Computerspielen dagegen liegt die Hürde höher: Man muss mit einem Controller oder Maus und Tastatur umgehen können, um ein Game zu entdecken. Computerspiele verlangen Interaktivität – und Zeit. Ein Film oder ein Konzert gehen nach zwei bis drei Stunden zu Ende. Ein Spiel dagegen erfordert oft zehn bis 100 oder mehr Stunden.

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Aber ab wann ist es Kunst? Hinter jedem Kunstwerk steht ein kreativer Prozess und steckt ein Mensch, der etwas ausdrücken möchte. Eine Idee, einen Gedanken, ein Gefühl, eine Vorstellung. Doch das alleine reicht nicht. Es muss auch Betrachter, Zuhörer, Konsumenten geben, bei denen das Werk etwas auslöst. Angefangen von einfachen emotionalen Reaktionen wie „das ist aber schön“ bis hin zur Prüfung der eigenen Überzeugungen und der eigenen Gefühle. Kunst kann zur Selbstreflexion zwingen und Gedanken anstoßen. Kunst kann etwas vermitteln. Auf eine Art, die über die bloße Erklärung hinaus- und tiefer geht, Sie zeigt etwas, macht etwas erfahrbar, statt es platt zu sagen. Zumindest ist das für mich die weitgehendste Definition, die mir einfällt.

Und was machen Computerspiele? Sie setzen mich einer Situation aus, in der ich reagiere und bisweilen Entscheidungen treffe. Solche die mir schwerfallen. Die mich auf die Probe stellen. Sie bauen virtuelle Welten auf, in denen es eine eigene Geschichte, eine eigene Kultur, wenn nicht sogar Kulturen und Glaubensströmungen gibt. Komplex, nachvollziehbar, in sich geschlossen. Und ich muss mich dazu verhalten. Ich kann sie akzeptieren, ihnen zustimmen oder sie ablehnen. Ich beziehe Stellung und finde meine eigene Position.

Der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga schrieb bereits 1939 in seinem Werk „Homo Ludens“ – Der spielende Mensch –, dass „Kultur anfänglich gespielt wird“. Moderne Computerspiele drehen diese Aussage um und lassen uns am Ende virtuelle Kulturen spielen. Und wenn wir uns mit ihnen auseinandersetzen, vergleichen wir das Imaginäre mit der Realität – die als Referenz dient. Im besten Fall verändert das den Blick auf die tatsächliche Welt.

Spiele zwingen zur Selbstreflexion

Dazu kommt noch, dass ich anders als in einem Film oder Buch mit dieser fiktiven Spiel-Welt interagieren muss, oftmals sogar selbst bestimmen kann, was für ein Protagonist ich sein möchte – großzügig, hilfsbereit und tolerant oder selbstsüchtig, egozentrisch und rücksichtslos. Es ist eine Rolle, die ich übernehme und die mich zwingt, auch mit den Folgen zu leben. Meine Handlungen entscheiden über den Fortgang und zeigen mir so auch ein Bild von mir. Ich bin mehr oder weniger zur Selbstreflexion gezwungen, um zu interagieren.

Sicher erfüllt nicht jedes Spiel das. So wie nicht jeder Film oder jedes Buch automatisch ein Kunstwerk ist. Aber viele Games gehen mittlerweile noch weiter: Sie konfrontieren mich mit Extremsituationen. Die Reihe „The Walking Dead“ von Telltale Games beruht fast nur darauf. Wie weit würde ich gehen, um in der postapokalyptischen Welt einen geliebten Menschen zu retten? Das Spiel zwingt mich, schwerwiegende Entscheidungen zu treffen. Und bei Youtube gibt es einige Videos von Menschen, die dabei in Tränen ausgebrochen sind – oder sich rechtfertigen.

Das Spiel „Detroit: Become Human“ handelt von künstlicher Intelligenz und menschenähnlichen Robotern. Mit allen sozialen Verwerfungen, die der massive Einsatz der Maschinen mit sich bringt – bis hin zur Frage, ab wann eine künstliche Intelligenz die gleichen Rechte wie ein natürlich geborener Mensch verdient hat und fordern kann. Es ist eine zutiefst bewegende Erfahrung. Denn in vielen Spielen sind virtuelle Figuren längst mehr als nur die bildhafte Darstellung von ein paar Programmzeilen. Es sind Charaktere, die Gefühle auslösen. Und sie erzählen Geschichten, die neue Welten öffnen. Auf dem Monitor und in meinen Kopf. Aber ist es nicht das, was ein Kunstwerk möchte? Dass meine Reaktion nicht unbedingt die war, die der Schöpfer der digitalen Kunstwelt beabsichtigt hat, spricht nicht dagegen.

Wie viele Filme und Bücher gibt es, die ein offenes Ende haben? Die ihre Interpretation den Zuschauer und dem Leser überlassen? Wie viele Musikstücke gibt es, die auf die Interpretation des Vortragenden angewiesen sind? Und ist es nicht das, was man bei einem Geigenspieler oder Pianisten lobt oder rügt? Eine gelungene, ungewohnte oder platte Darbietung eines Musikwerkes – abseits dessen, was der Komponist beabsichtigt hat?

Was unterscheidet das, von einem Computerspiel, in dem ich aktiv eingreife? Alles, was dort passiert, hängt von mir ab und dreht sich um mich. Es löst etwas in mir aus, gerade weil es interaktiv ist und mich aus der passiven Rolle reißt. Es ist meine Erfahrungen, es sind meine Gedanken und Gefühle, die mich bewegen und die bleiben. In den besten Fällen haben sie mich sogar ein klein wenig verändert. Und ist es nicht das, was Kunst ausmacht? Eine Antwort darauf haben Hunderttausende, die nach Köln zur Gamescom fahren, und Millionen Spieler weltweit längst gefunden.

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