30. Geburtstag E-Mails - nervtötend, aber unverzichtbar

Düsseldorf · Vor 30 Jahren erreichte Deutschland die erste Mail. Was da alles gesendet wurde! Wahrscheinlich alles - vom Liebesschwur bis zum Geschäftsbrief. Und was E-Mails alles sind! Sie gibt es als unlesbare E-Mail-Romane und kitschige -Filme wie "e-m@il für Dich". Vor allem aber sind sie sehr praktisch und unverzichtbar, ungeheuer nervtötend - und unglaublich zeitraubend. Eine Betrachtung zum Geburtstag.

30. Geburtstag: E-Mails - nervtötend, aber unverzichtbar
Foto: dpa, Jan-Philipp Strobel

Eigentlich verrückt, mit Joseph von Eichendorff zu beginnen. Mit dem ollen Romantiker aus dem 19. Jahrhundert also. Dabei geht es doch um unsere Zukunft, um unsere postalische Erreichbarkeit rund um die Uhr und unsere kommunikative Reichweite rund um den Globus - kurz und gut: um die E-Mail.

Doch manchmal hilft es ja, auch die Vergangenheit zu betrachten, um die Gegenwart zu kapieren und die Zukunft zu erahnen. Darum also der Dichter Eichendorff, der ein Fan des Vorvorläufers aller E-Mails war, der guten alten Post. Kein anderer Dichter lässt in seinen Versen das Posthorn so oft ertönen wie er - und am berühmtesten vielleicht in "Sehnsucht": "Es schienen so golden die Sterne, / Am Fenster ich einsam stand / Und hörte aus weiter Ferne / Ein Posthorn im stillen Land."

Aus dem fernen Horn ist heutzutage ein kleines Pling! und aus der bestenfalls täglichen Zustellung eine womöglich hundertfache Belästigung geworden. Mit erheblichem Entwicklungspotenzial. Die erste Mail erreichte Deutschland vor genau 30 Jahren; vor 20 Jahren huscht bereits eine Milliarde elektronischer Nachrichten hierzulande durchs Netz; vor zehn Jahren waren es knapp 109 Milliarden, in diesem Jahr wird ihre Zahl auf 504 Milliarden geschätzt.

Was da alles gesendet wurde! Wahrscheinlich alles - vom Liebesschwur bis zum Geschäftsbrief. Und was E-Mails alles sind! Sie gibt es als unlesbare E-Mail-Romane und kitschige -Filme wie "e-m@il für Dich". Vor allem aber sind sie sehr praktisch und unverzichtbar, ungeheuer nervtötend und unglaublich zeitraubend. Es ist definitiv schöner, eine Mail zu bekommen, als eine beantworten zu müssen. Und noch unnötiger ist es, ein knallrotes Ausrufezeichen zu setzen oder eine Empfangsbestätigung einzufordern. Als ob jede Mail gleich den Rang eines Einschreibebriefes hat. Zu dieser Aufwertung greifen viele, weil sie Sorge haben, mit ihrer Botschaft unterzugehen. Und viele Botschaften gehen spielend leicht unter, weil viel zu viel Schrott im E-Mail-Verkehr unterwegs ist, ein Riesenhaufen Plunder, massenweise Spams.

E-Mails ersparen uns viele und weite Postwege, kurioserweise beschleunigen sie aber genau dadurch unseren Tag. Wer nur 100 Nachrichten an einem Arbeitstag bekommt, wird sich kaum jeder Mail auch nur eine Minute widmen können. So wird schneller gelöscht, als es jedem Absender lieb sein kann. Und wer glaubt, ungelesene Mails ungelöscht für spätere Zeiten zu bewahren, hat ohnehin schon verloren. Denn E-Mails sind nicht aufs Archivieren angelegt, sondern auf die sofortige Benutzung, die anschließende Vernichtung und das baldige Vergessen.

Das hat Folgen auch auf die Sprache, die mitunter so verheerend sind, dass sich E-Mail-Knigges zunehmender Beliebtheit erfreuen. Dann heißt es tatsächlich, dass die Nachrichten lesbar sein sollen, dass sie eine Grußformel haben müssten und ein aussagekräftiges Betreff. Geschenkt.

Aber solche Tipps lassen erahnen, wie orthografisch ungestüm es im Mail-Verkehr bisweilen zugehen kann. Durchgängige Kleinschreibung ist längst akzeptiert, und kleinere Vertipper gelten durchaus nicht als Nachlässigkeit, sondern als Ausweis beeindruckender Geschäftigkeit. Das Korrekturlesen eigener Mails ist im dichten Nachrichten-Gestöber ohnehin verpönt.

Wer jetzt den intellektuellen Untergang des Abendlandes durch Mails beklagt, könnte sich wenigstens an dessen klimatologischer Rettung erfreuen. Schließlich wird mit E-Mails kein Papier verbraucht (solange man die Nachrichten nicht zusätzlich ausdruckt); auch sind keine Transporte durch Lkw und Bahn, durch Flieger und Schiff erforderlich. Wäre da nicht der Energie-Verbrauch. Der ist mittlerweile ungeheuerlich: Allein das Versenden der 62 Billionen Spam-E-Mails weltweit verbrauchte zuletzt 33 Milliarden Kilowattstunden Energie und verursachte damit jährlich den gleichen Ausstoß an Treibhausgasen wie 3,1 Millionen Autos.

Das fällt vor dem Bildschirm natürlich nicht weiter auf. So flott und leicht und in diesem Sinne modern Mails dann auch erscheinen, so altertümlich ist selbst ihre Kommunikationsstruktur. Denn der Austausch funktioniert nicht gleichzeitig, sondern asynchron. Im Grunde wie die alte Briefpost; im Grunde also wie beim alten Eichendorff.

In seinem Gedicht "Sehnsucht" aber kommt gar keine Post an. Es bleibt bei der Ankündigung via Posthorn, das den Wunsch weckt: "Das Herz mir im Leib entbrennte, /Da hab ich mir heimlich gedacht: /Ach wer da mitreisen könnte / In der prächtigen Sommernacht!"

Es geht bei Eichendorff vorrangig also gar nicht um Brief und Nachricht, es geht um das Mitreisen, um die Überwindung von Einsamkeit, um Aufbruch und Unmittelbarkeit, um das Hinaustreten in die Welt und die Begegnung mit der Welt.Das sollte man selbst beherzigen. Und möglichst bald. Vielleicht vorher ein kurzer Blick ins Postfach: 32 neue Mails seit Textbeginn, acht mit einem Anhang, dafür kein Prioritäten-Vermerk. Das lässt sich doch schnell noch aufräumen. Das nächste Posthorn ertönt bestimmt.

(RP)
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