Dreamcore-Trend bei TikTok Alles so schön unheimlich hier

Düsseldorf · Im sozialen Netzwerk Tiktok boomen Videos, in denen die Wirklichkeit verschwimmt. „Dreamcore“ heißt das Stichwort zum Trend. Er fügt sich in eine alte Tradition.

 Screenshots zum Hashtag Dreamcore bei TikTok.

Screenshots zum Hashtag Dreamcore bei TikTok.

Foto: Screenshots: TikTok/#dreamcore

Manchmal sieht man einfach nur einen Flur, der sehr lang ist und in der Dunkelheit endet. Oder eine leere Turnhalle, deren Wände eigenartig eingefärbt sind. Oder Stufen, die ins Nichts führen. Oder leere Joghurtbecher, die vor einem Schulgebäude stehen. Oder eine Hütte, in der es schwach leuchtet, obwohl drumherum alles schwarz ist. „Dreamcore“ heißt das Stichwort, mit dem Tiktok-Nutzer viele der sekundenlangen Videos versehen, die im erfolgreichsten Netzwerk der Gegenwart geteilt werden.

Der Begriff setzt sich aus „Traum“ und „Hardcore“ zusammen und bezeichnet jenen eigenartigen Zustand nach dem Aufwachen, wenn man nicht unterscheiden kann, ob man noch träumt oder schon wach ist. Weit mehr als 400 Millionen Mal wurde der Hashtag in den vergangenen Wochen benutzt. Nimmt man ähnliche Begriffe wie „Feverdreamcore“ hinzu, kommt man auf einige Millionen mehr.

Ästhetik heißen solche Stile bei TikTok, und der aktuelle mischt die Wärme von Nostalgie und Melancholie mit einer Ungewissheit, die etwas Zermürbendes hat. Dreamcore führt die Betrachter zurück zu Erfahrungen, die sie kennen, von denen sie aber gar nicht mehr so genau wissen, ob sie sie nun selbst gemacht oder einfach im Zuge ihrer popkulturellen Sozialisation aufgenommen haben. Aus dem Zusammenhang gerissen wirken sie jedenfalls auf angenehme Art gruselig.

Man könnte den Trend nun als unerhebliches Phänomen abtun, wenn Tiktok in den vergangenen zwei Jahren nicht zum einflussreichsten Umschlagplatz des Neuen geworden wäre. Die Plattform hat etwa durch die Art, wie dort Songs eingesetzt werden, den Musikmarkt verändert und Hits gemacht. Ein Titel, den sich besonders viele Nutzer als Untermalung ihrer Videos aussuchen, ist schneller auf Platz eins der Charts, als die Bosse der Plattenfirmen es mit Werbung und anderen herkömmlichen Strategien hinbekommen würden.

Man könnte sagen, Tiktok hat unseren Alltag verändert. Als 2020 unter dem Stichwort „Cottagecore“ besonders viele Clips gepostet wurden, die das Landleben ästhetisch überhöhten und stark stilisierten, übernahm Taylor Swift, der größte weibliche Popstar der Welt, die Zutaten und präsentierte sich auf dem Cover ihres Albums „Folklore“ mit geflochtenem Haar, in Kleidchen und Wollpulli. Bei den Grammys trat sie moosumflort auf dem Dach einer Elfenhütte im Wald auf. Bekleidungsfirmen von Dior bis H&M brachten schließlich vom Cottagecore inspirierte Stücke mit Blumenprints in die Läden.

Die Prinzipien dieser Ästhetiken sind stets Übertreibung, Projektion und Überinterpretation. Cottagecore bedeutet nicht, dass nun alle aufs Land ziehen wollen. Sie möchten lediglich ein Ideal vom Landleben kreieren und dabei „eine virtuelle Jugendbewegung“ in Gang setzen, wie Jens Balzer in der „Zeit“ schrieb. Ähnlich ist es mit „Dreamcore“: Im Grunde geht es darum, sich an die Kindheit zu erinnern. Und die Frage zu stellen, wie individuell Erfahrungen, von denen man meint, sie prägten uns, eigentlich sind.

„Dreamcore“ steht in einer Tradition, an die zuletzt wieder stark angeknüpft wurde. Einflüsse sind vor allem die Filme von David Lynch. In „Blue Velvet“, „Lost Highway“ und „Inland Empire“ lässt der amerikanische Regisseur das Irreale wirklich erscheinen. Die Augen des Zuschauers sehen in Trance etwas, das vorher nicht da war. Lynch benutzt ein bestimmtes Verfahren, mit dem er eine schwindelerregende Unschärfe in seine grobkörnigen Bilder bringt. Konturen verschwimmen, Atmosphären werden sichtbar.

Künstlerpersönlichkeiten wie die Cocteau Twins, Beach House und Lana Del Rey beziehen sich auf diese Ästhetik. Tag und Traum kommentieren einander, die Vergangenheit geht in der Gegenwart auf, ohne dass man ihre Spuren eindeutig nachvollziehen kann. Alles fließt ineinander: Es gibt einen Ort, an den ich dich führen möchte. Hilf mir, ihn zu finden.

Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch der Film „I’m Thinking About Ending Things“ von Charlie Kaufman aus dem Jahr 2020. Es geht um eine Frau, die mit ihrem Freund Schluss machen möchte und dennoch mit ihm eine winterliche Fahrt zur Farm seiner Eltern unternimmt, wo dann alle Gewissheiten ins Schwanken geraten. Zitate aus anderen Filmen, aus Liedern und der Literatur überlagern das eigene Empfinden. Das Bewusstsein wird zum Sammelbecken; vom Selbst bleibt lediglich eine Ahnung: „Dieser Film handelt von jemandes Erlebnissen, der alle Dinge aufsaugt, die er sieht, und davon, wie sie ein Teil seiner Psyche werden“, sagt der Regisseur.

Im Film wird auch auf den Urtext der „Dreamcore“-Empfindung angespielt, die romantische Ode „Innewerden der Unsterblichkeit aus Erinnerungen an die frühe Kindheit“ von William Wordsworth. Darin heißt es: „Es ist nun nicht mehr, wie es einstmals war; – / wohin immer auch ich mich wenden mag / bei Nacht oder Tag, / die Dinge, die ich vormals sah, kann ich nun nicht mehr sehen.“

„Dreamcore“ ist also etwas Neues, das von etwas Altem handelt. Von der Vertreibung aus den künstlichen Paradiesen der Kindheit nämlich. Und von der Möglichkeit, die dieses Trauma zur Erkundung des Ichs bietet.

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