Brandsätze in Berlin Angst vor einer neuen RAF

Düsseldorf (RPO). Die linksterroristische "Rote Armee-Fraktion" hinterließ in den 70er und 80er Jahren eine blutige Spur mit 34 Morden und vielen Verletzten in Deutschland. Sie begann mit Brandanschlägen, um das politische System zu stürzen. Auch zu der Serie von Brandanschlägen in Berlin haben sich gewaltbereite Linksextremisten bekannt. Auch sie wollen das System stürzen. Droht Deutschland eine neue RAF?

Der Brandanschlag auf den Berliner Hbf
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Der Brandanschlag auf den Berliner Hbf

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Wenn über vier Tage hinweg 2000 Züge gar nicht oder stark verspätet fahren, dann kann tiefster Winter herrschen oder die S-Bahn in Berlin mal wieder von Streiks oder selbstgemachtem Chaos betroffen sein. Insofern reagierten die Berliner auf die versuchten Brandanschläge entlang der Bahnstrecken in und um die Hauptstadt teils empört, teils entnervt. Jedenfalls nicht so, wie es sich die Täter gedacht hatten, als sie die Dreieinhalb-Millionen-Metropole in einen "Pausenmodus zwingen" wollten.

Bekennerschreiben im Internet

Terror, das kommt aus dem Lateinischen und verweist auf die Verbreitung von Schrecken. Den hätte es gegeben, wenn alles gelungen wäre, was die Linksextremisten für den Start in diese Woche vorbereitet hatten. Um 8.11 Uhr schlug am Montag ihr Bekennerschreiben auf einer linken Plattform auf. Überschrift: "Presseerklärung zu den Brandanschlägen auf Bahn und Telekommunikation wegen 10 Jahre Afghanistan." Sie beschrieben genau, wie sie für einen Tag die Hauptstadt weitgehend lahmlegen wollten: "Die Züge kommen nicht, das Handy schweigt, auch das Internet braucht heute sehr lange." Tatsächlich kamen die meisten Züge, klingelten alle Handys und das Internet funktionierte einwandfrei.

Denn die Brandanschläge blieben ein Flop. Nur ein Brandsatz ging hoch, richtete jedoch keinen Schaden an. Alle anderen blieben unausgelöste "Brandbeschleuniger mit elektronischem Zeitgeber", wie es in dem Bekennerschreiben heißt. Dennoch war die versuchte Anschlagserie ein Akt, der die verwundbaren Stellen der modernen Welt offen legte. Was in der Wahrnehmung als täglich neue Anschlagsserie auf die S- und Fernbahnstrecken der Hauptstadt erschien, war tatsächlich das Eingeständnis, dass Hundertschaften von Polizisten und Bahnbediensteten vier Tage brauchten, um erst nach und nach die Brandbomben zu finden, die alle zusammen am Montag morgen hätten hochgehen sollen. Und zwar nach dem Muster, das schon bei vorangegangenen Anschlägen auf die Infrastruktur der Bahn zu erheblichen Störungen geführt hatte. Insofern schritt die Polizei nah jedem Fund ein und sperrte die betroffenen und nahe gelegene Strecken für Stunden, um alle Details am Tatort sicherstellen zu können — und vor allem um zu klären, ob da noch weitere Sprengsätze versteckt waren.

Erfolglose Störversuche

Dass umgehend debattiert wird, ob das nun noch Linksextremismus oder schon Linksterrorismus ist, hatten die Täter offenbar geahnt. Denn schon im zweiten Absatz empfehlen die Bekenner, "die Terrorismuskeule ... besser in der Tasche (zu) lassen". Diese Mahnung ist nicht auf den dilettantischen Ausgang der Aktion zu beziehen. Denn als er geschrieben wurde, gingen die Verfasser davon aus, dass sie Millionen Menschen von ihren Arbeitsplätzen fern gehalten, die Handyverbindungen unterbrochen und auch das Internet massiv getroffen hätten. Millionenschäden wären entstanden, und nach den bisherigen einschlägigen Erfahrungen hätte es Tage gedauert, bis Transport- und Kommunikationswege wieder vollständig benutzbar gewesen wären.

Da die Störung weitgehend ausfiel, gefallen sich die Täter nun darin, zu betonen, wie harmlos sie eigentlich seien. Kaum hatte Berlins Innensenator kritisiert, dass der Linksextremismus nun sein "hässliches Gesicht" zeige, indem er den Tod von Menschen durch einen entgleisenden Zug in Kauf nehme, meldeten sich die Selbstbezichtiger erneut zu Wort und legten Wert auf die Feststellung: "Kabelbrände können nicht zu Zugentgleisungen oder ähnlichem führen. Jeder Bahnexperte wird das bestätigen." Also nur ein großer Spaß? Womöglich sogar eine Wohltat für die Berliner?

Jedenfalls hatten die Täter vor, der Stadt einen anderen Rhythmus aufzuzwingen. Originalton Bekennerschreiben: "Raum entsteht, wenn die Mobilität zur Ruhe kommt. Wenn das Handy nicht nervt. Denn heute funktioniert nichts so richtig... Der Tag gehört Dir. Die Stadt hält den Atem an, verlangsamt ihr Tempo, vielleicht hält sie inne. Entschleunigung." Was klingt wie lyrische Wellness für Körper und Seele soll der Anfang von Terror sein?

Ziel: Niemand soll telefonieren können

Es ist das extremistische, ins Totalitäre weisende Denken, das hinter der Aktion steckt: Die Täter wollen einer ganzen Metropole ihren Willen aufzwingen. Niemand soll telefonieren können, wenn sie es so wollen. Auch nicht zur Arbeit oder zu Freunden kommen, wenn sie es so wollen. Oder per Handy den Rettungsdienst rufen, wenn sie es so wollen. Im Internet bekamen sie die Konsequenzen aus anderer Sicht vorgehalten, wie sich "Entschleunigung" aus Sicht der "Entschleunigten" anfühlt: "Die Arbeiterin, die durch die Zugausfälle ihren Job verloren hat, die Mutter, die ihre kleine Tochter nicht vom Kindergarten abholen konnte, sie werden euch euren selbstlosen Einsatz sicher danken", lautete ein Kommentar zu dem Bekennerschreiben.

Andere gaben zu bedenken, was denn die angeblich "direkte Aktion" mit dem Ziel zu tun habe, den Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan zu erzwingen. Diese Vorstellung sei "Gesülze", meinte ein Verfasser und fragte die Täter, warum sie nicht alles an dem Tag lahmlegen, an dem die Antifaschisten mit der Bahn zur Demo gegen Nazis fahren wollen. "Ist die Bahn dann weniger böse als heute? Weil sie die ,Guten' transportiert?" Versehen mit dem Hinweis: "da war Frau Ensslin ja noch weniger verkopft".

Die Parallelen zur RAF

Und da war er, der Vergleich der aktuellen Vorgänge mit den Anfängen der RAF. Gudrun Ensslin war Mitgründerin der Roten Armee-Fraktion, und sie gehörte zu den Attentätern, die am 2. April 1968 in Frankfurt mit Brandbeschleunigern und Zeitzündern zwei Kaufhäuser in Brand steckten. Sie lehnten damals ebenfalls die "Terrorismuskeule" gegen sich ab. Es war die Zeit, in der Linksextremisten den Terrorismus im Konsum-"Zwang" und den Strukturen des "unterdrückenden" Staates sahen. Aber so wie die Attentäter von Berlin mit dem Lahmlegen von S-Bahn und Handys gegen den Krieg in Afghanistan protestierten, protestierten die späteren RAF-Terroristen mit der Zerstörung von zwei Kaufhäusern gegen den Krieg in Vietnam. Heute wie damals stellt sich die Frage, wie man auf die Idee kommen kann, mit solchen Taten einen fernen Kriegsschauplatz auch nur im entferntesten beeinflussen zu können.

Es gibt Unterschiede. Die damaligen Täter entschlossen sich zum Kampf als Stadtguerilleros und ließen sich in Terrorcamps im Nahen Osten ausbilden.Und als Emblem wählten sie eine Maschinenpistole vor einem Roten Stern. Klare Botschaft: Militante Revolution. Dagegen ziehen die Täter von heute eine isländische Briefmarke als Emblem vor. Sie zeigt den Ausbruch des isländischen Vulkans Hekla. Und wie sie darauf hoffen, dass dieser bald ausbrechen möge und — wie der Eyjafjallajökull" — den Flugverkehr in Europa abermals lahmlegen könnte, gingen sie davon aus, Berlin "in einem bescheidenen Umfang in den Pausenmodus umgeschaltet" zu haben. Deshalb nennen sie sich "Hekla-Empfangskomitee".

Der Verfassungsschutz vermutet, dass die Urheber der jüngsten Anschlagserie innerhalb der Linksextremisten isoliert sind. 32.200 Linksextremisten zählte der Verfassungsschutz Ende vergangenen Jahres. 6800 davon gelten als gewaltbereit. Bereits im Bericht der Verfassungsschützer über die Trends im Vorjahr wird eine "Verschärfung der Diktion" festgestellt, die mit einer "qualitativen Veränderung der Gewalt" einhergehe. Vor einer "Gewaltspirale" warnte nun auch Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CDU). Deshalb müsse man "wachsam sein", damit die in den Berliner Brandanschlägen zum Ausdruck kommende Gewaltbereitschaft "sich nicht zu einem neuen Linksterrorismus" entwickelt. Von "beginnendem Linksterrorismus" sprachen sowohl der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, als auch der niedersächsische Landesinnenminister Uwe Schünemann (CDU). Und "verbrecherische terroristische Anschläge" verurteilte Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU).

Parallelen zur RAF gibt es im ausufernden Mitteilungs- und Rechfertigungsbedürfnis der Täter. Die "Hekla"-Gruppe von heute hält die Zeit gekommen für ein "selbstermächtigtes Handeln" und fügt sogleich hinzu: "Wir ermächtigen uns." Und mitten in den Ausführungen, die viele Leser auch in der linken Szene mehr oder weniger als Geschwafel abtun, findet sich der Satz: "Wie die Interventionen im Einzelnen aussehen, ist Sache derer, die Handeln — damit zu beginnen, ist alternativlos." Es folgt als nächstes Wort "Terror" und die Behauptung, die eigentlichen Terroristen säßen in den Regierungen, den Aufsichtsräten und Chefetagen. Das klingt im Oktober 2011 dann doch schon sehr stark nach den Phrasen des 5. Juni 1970, als der Text "Die Rote Armee aufbauen" erschien. Jedenfalls lässt die "Intervention", deren Art den Handelnden selbst überlassen wird, auch Anschläge zu, die weit über nicht funktionierende Brandbeschleuniger hinausgehen.

Wie gefährlich sind die Linksextremisten?

Wie sehr sich die Bevölkerung auf die Isoliertheit der Tätergruppe verlassen kann, lässt sich schwer ermessen. In der linken Szene wird auch Zustimmung laut. "Gut so! Weiter so!", lauten Kommentare. Oder direkte Handlungswünsche: "Das nächste Mal bitte mehr Bundeswehr treffen oder die Bahn direkt." Auch die Linken-Abgeordnete Ulla Jelpke gibt zu Protokoll: "Die im Bekennerschreiben genannten Ziele der Gruppe sind durchaus richtig." Die Wahl der Mittel sei indes falsch. Zugleich relativiert auch sie die Gefährlichkeit der Anschläge: Man solle dem "Hekla-Empfangskomitee" abnehmen, keinem Menschen Schaden zufügen zu wollen.

Verfassungsschützer beobachten in Berlin eine schleichende Militarisierung gewaltbereiter Autonomer. Diese bereiten sich auf das jährliche Kräftemessen mit der Staatsmacht am 1. Mai und bei anderen Anlässen immer gezielter vor. Sie üben nicht mehr nur, wie sie sich bei Sitzblockaden zusammenketten und möglichst schwer machen können. Sie üben auch Strategien des Straßenkampfes und posieren vermummt mit Eisenstangen und Baseballschlägern. Auch Feuerwerkskörper und Brandsätze gehören zunehmend zum Standard-Repertoire bei "Demonstrationen". Damit wollen sie nicht nur Gewalt gegen Sachen begehen. Gezielt gehen sie gegen Polizisten vor, nehmen schwere und schwerste Verletzungen in Kauf oder legen es sogar darauf an.

Die Motivation wird dadurch erhöht, dass es zumeist vorgeblich oder tatsächlich um den Widerstand gegen Rechtsextremisten geht, also um ein Anliegen, das von der großen Mehrheit der Bevölkerung geteilt wird. Dieser Aspekt fehlt in dem "Hekla"-Bekennerschreiben. Statt dessen nehmen sie sich das "System" selbst zum Ziel und definieren die Kommunikation zur "Kampfzone", rufen zur "Systemsabotage" auf, und wollen perspektivisch den "Zusammenbruch der Verwertungsabläufe der Metropolen".

Aber auch in ihrem eigenen "System" steckt ein bemerkenswerter Fehler. Sie gingen beim Verfassen ihres Bekennerschreibens davon aus, die Kommunikation und namentlich das Internet getroffen und lahmgelegt zu haben und stellten die Erklärung und Rechtfertigung dieser Tat wohin? Ins Internet.

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