Interview Kristel Degener „Corona hat einen neuen Schutzgedanken gefördert“

Aids hält sich seit über 30 Jahren als Pandemie auf dem Erdball. Die Vorsitzende der Deutschen Aids-Stiftung spricht über ihre Hilfsorganisation in der Krise und Parallelen zwischen HIV und Covid-19. Aufklärung und Information sind die besten Voraussetzungen, die eigene Gesundheit zu bewahren.

 „Avoid Aids“ – vermeide Aids schreibt ein junger Mann an die rote Aids-Schleife auf eine Wand im Kibera-Slum in Kenia, Nairobi. 

„Avoid Aids“ – vermeide Aids schreibt ein junger Mann an die rote Aids-Schleife auf eine Wand im Kibera-Slum in Kenia, Nairobi. 

Foto: dpa/Dai Kurokawa

Frau Degener, wie geht es Ihrer Hilfsorganisation in Zeiten von Corona?

Degener Als Mitte März der Lockdown kam und seither Corona unser aller Leben bestimmt, sind unsere Spendeneingänge zunächst komplett eingebrochen. Man merkt, dass in der Bevölkerung neben gesundheitlichen Ängsten auch existenzielle Sorgen überwiegen. Verständlicherweise wollten die Menschen zunächst abwarten, inwieweit sie sich auf finanzielle Einbußen einstellen müssen. Mittlerweile hat sich die Situation wieder etwas erholt und unsere Spendeneingänge haben sich stabilisiert.

Sie wollen sich mit der Stiftung neu aufstellen? Wie sieht die neue Strategie aus?

Degener Wir möchten künftig die sexuelle Gesundheit ganzheitlicher betrachten. Denn neben HIV gibt es auch andere sexuell übertragbare Krankheiten und gesundheitliche Probleme, mit denen auch HIV-Patienten zu kämpfen haben. Und umgekehrt haben Menschen mit einer anderen sexuell übertragbaren Infektion ein erhöhtes Risiko, sich zusätzlich mit dem HI-Virus zu infizieren. Dies möchten wir verstärkt in das Bewusstsein der Menschen rücken und mehr Aufklärungs- und Informationsarbeit leisten. Denn man kann sich nur schützen, wenn man gut informiert ist.

Gibt es schon konkrete Beispiele zur Gesundheitsförderung?

Degener Ja, wir haben drei große Zielgruppen, in denen wir Aufklärung und Prävention vorantreiben möchten. Zum einen sind dies Kinder- und Jugendliche. Dazu fördern wir diverse Projekte an Schulen, die wir hoffentlich bald auch wieder vor Ort mit den Schülern umsetzen können. Eine weitere wichtige Gruppe sind Menschen aus Bevölkerungsgruppen oder Ländern, in denen sexuelle Gesundheit noch eher ein Tabuthema ist. Und natürlich haben wir auch diejenigen im Blick, die aufgrund ihres geschwächten Immunsystems durch die HIV-Infektion unter weiteren Begleiterkrankungen oder auch unter psychischen Erkrankungen leiden.

Sars-Cov-2 und HIV sind beides RNA-Viren, aber sie gehören unterschiedlichen Familien an (Coronaviren und Retroviren). Gibt es dennoch Gemeinsamkeiten?

Degener Diese Fragen können Mediziner oder Virologen sicher besser beantworten. Wir sehen die Ängste und die Bedrohungen, die von beiden Viren ausgehen. Die Infektionswege sind ganz unterschiedlich: das neuartige Coronavirus wird leicht durch Husten und Niesen übertragen und kann jeden treffen, der sich in der Öffentlichkeit bewegt. Bei einer HIV-Infektion liegt dagegen oftmals ein Risikoverhalten zugrunde.

Können wir aus der Corona-Krise auch für die Behandlung von HIV Schlüsse ziehen?

Degener Ja, ich denke schon. Wir haben in der Corona-Krise die Erfahrung gemacht, dass wir effektive Maßnahmen haben, die wir auch sehr erfolgreich umgesetzt haben. Der Schutzgedanke ist in der Bevölkerung durch die Corona-Pandemie stark in den Vordergrund gerückt. Dieses Bewusstsein, dass man sich selbst und seine Mitmenschen schützen kann und muss, ist eine Chance auch für den Schutz vor anderen Infektionskrankheiten.

Mit dem HI-Virus infiziert zu sein bedeutet heute längst nicht mehr ein Todesurteil. Hat Aids ein Stück weit seinen Schrecken verloren?

Degener Ja, das ist sicher so. Es kann schnell der Eindruck entstehen, dass eine Infektion mit dem HI-Virus nicht so schlimm ist und sich deshalb eine größere Sorglosigkeit und ein höheres Risikoverhalten einstellen.

Ist das angesichts von 4.600 täglich Neuinfizierten weltweit angemessen?

Degener Es stimmt zwar, dass die meisten Infizierten heute viele Jahre symptomfrei leben. Und heute stehen HIV-Medikamente zur Verfügung, die gut verträglich sind. Aber HIV und Aids sind nach wie vor nicht heilbar. Wer HIV-positiv ist, ist lebenslang auf Medikamente angewiesen. Wie gut und wie lange man mit HIV leben kann, hängt auch stark vom Zeitpunkt der Diagnose ab und wie schnell nach einer positiven HIV-Diagnose mit der antiretroviralen Therapie begonnen wird. Laut Robert Koch-Institut leben allein in Deutschland schätzungsweise etwa 11.000 Menschen mit HIV, aber ohne Diagnose und daher ohne Therapie. Allein dies ist ein Grund, künftig Aufklärung und Prävention weiter voranzutreiben.

Ihr Kuratoriums-Vorsitzender Henrik Streeck ist mittlerweile als einer von vielen Experten in der Corona-Pandemie prominent geworden. Sprechen Sie in diesen Tagen öfters miteinander?

Degener Wir sind regelmäßig in Kontakt. Da Herr Streeck derzeit sehr eingespannt ist, allerdings im Moment eher per WhatsApp.

Hat sich durch die besseren Überlebenschancen der Betroffenen auch die Arbeit der Stiftung verändert?

Degener Eindeutig. Früher ging es sehr häufig darum, einem Betroffenen noch den letzten Wunsch zu erfüllen. Heute sind es meist ganz praktische und soziale Dinge, bei denen die Stiftung versucht zu helfen. Vor allem finanzielle und psychische Probleme belasten die Infizierten sehr häufig.

Aids ist seit nunmehr über 30 Jahren eine Pandemie, die die Welt bisher nicht verlassen hat. Wird es mit Covid-19 ähnlich sein?

Degener Ich fürchte ja. Solange es keinen Impfstoff gibt, wird das Virus nicht vom Erdball verschwinden. Bei Aids ist dies in 30 Jahren nicht gelungen, es gibt bis heute keinen Durchbruch für einen Impfstoff gegen HIV. Ich hoffe, dass die Wissenschaft einen Impfstoff gegen Sars-CoV-2 entwickeln wird, aber dass dies so schnell geht wie erhofft, glaube ich nicht.

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