Nach EZB-Urteil aus Karlsruhe Von der Leyen prüft Klage gegen Deutschland

Brüssel/Karlsruhe · Die Bundesverfassungsrichter haben sich mit ihrer Entscheidung zu den Anleihenkäufen der EZB gegen das höchste EU-Gericht gestellt. Die EU-Kommission prüft nun ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland.

 Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission (Archivbild).

Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission (Archivbild).

Foto: dpa/Etienne Ansotte

Ein fatales Signal nennt es die SPD-Europapolitikerin Katarina Barley. Der Europarechtler Franz Mayer spricht von einer „Atombombe“, die das Bundesverfassungsgericht gezündet habe. Mit ihrem Urteil zu den milliardenschweren Staatsanleihenkäufen der Europäischen Zentralbank (EZB) haben sich die Karlsruher Richter zum ersten Mal über eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) hinweggesetzt - und damit Schockwellen in Europa ausgesendet. Bröckelt nun die Autorität des höchsten EU-Gerichts - in einer Zeit, in der die Europäische Union ohnehin zunehmend mit Nationalismus zu kämpfen hat? EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen ist alarmiert.

Die deutschen Richter dürften das Beben vorhergesehen haben. Das Urteil könne „auf den ersten Blick irritierend wirken“, schickt Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle am 5. Mai der Verkündung voraus. Dem Senat sei bewusst, „dass Entscheidungen des EuGH nur in absoluten Ausnahmefällen die Gefolgschaft versagt bleiben darf“.

Der Konflikt liegt in der Natur der Sache: Auf der einen Seite das mächtige Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, das über die deutschen Grundrechte wacht. Auf der anderen Seite das oberste EU-Gericht in Luxemburg, das die europäischen Verträge auslegt und damit die Union zusammenhält. Was, wenn das zu Widersprüchen führt?

In der Tendenz hat sich Karlsruhe seit den 1970er Jahren mehr und mehr zurückgenommen. Mit zwei Ausnahmen: Die Richter behalten sich vor einzugreifen, wenn sie den innersten Kern des Grundgesetzes verletzt sehen. Und wenn ein EU-Organ sich Kompetenzen herausnimmt, die ihm der Bundestag als Vertretung der Wähler nie übertragen hat.

Den zweiten Punkt stellt die EZB mit ihrem umstrittenen Anti-Krisen-Kurs seit Jahren hart auf die Probe. 2014 unterbreiten die deutschen Richter ihre Bedenken zum ersten Mal dem EuGH. Der gibt der EZB grünes Licht. 2017 - inzwischen hat die Notenbank viele Milliarden in Staatsanleihen gesteckt - der zweite Karlsruher Vorstoß in Luxemburg. Aber der EuGH lässt sich eineinhalb Jahre Zeit und erteilt dem Kaufprogramm dann recht pauschal seinen Segen.

Dass sich die deutschen Richter das nicht bieten lassen würden, war zu befürchten. Sie schieben das EuGH-Urteil als „objektiv willkürlich“ und „methodisch nicht mehr vertretbar“ beiseite und entscheiden im Alleingang, dass die Notenbank ihr Mandat für die Geldpolitik überspannt habe - ein beispielloser Vorgang.

„Ich habe die Sorge, dass sich das Urteil negativ auf die Zukunft und den Zusammenhalt der Europäischen Union auswirken könnte“, sagt die frühere Bundesjustizministerin Barley der „Passauer Neuen Presse“ (Samstag). EuGH-Entscheidungen müssten von den nationalen Gerichten respektiert werden. Der Europarechtler Mayer von der Universität Bielefeld hält die Situation für „hochgefährlich“. Den Richterspruch aus Karlsruhe sieht er als Angriff auf die EuGH-Kollegen.

Diese lassen sich mit einer inhaltlichen Reaktion mehrere Tage Zeit. Am Freitag werden sie dann aber ungewöhnlich deutlich. Grundsätzlich gelte zwar: „Die Dienststellen des Gerichtshofs kommentieren Urteile nationaler Gerichte nicht.“ „Ganz generell“ stellt der EuGH aber klar, dass derlei Urteile das Justizsystem der EU gefährdeten. Eine Vorabentscheidung sei für das nationale Gericht bindend. Dass die Handlung eines EU-Organs - in diesem Fall die EZB - gegen EU-Recht verstoße, dürfe nur der EuGH feststellen. Andernfalls seien die Einheit des EU-Rechts und die Rechtssicherheit in Gefahr.

Für den Europarechtler Mayer ist der Schaden längst angerichtet. „In Polen knallen die Korken“, sagt er. In dem Land baut die nationalkonservative PiS-Regierung das Justizwesen seit Jahren um. Der EuGH schritt mehrfach ein und befand, dass Teile der Reformen gegen EU-Recht verstießen. Durch das deutsche Urteil fühle die PiS sich natürlich bestätigt, sagt Mayer. „Die können ihr Glück kaum fassen.“ Die Regierung werde künftig auf das Bundesverfassungsgericht verweisen und behaupten, EuGH-Urteile seien nicht bindend.

Tatsächlich wird das Urteil von der Regierung in Warschau nahezu euphorisch aufgenommen. Es sei von kolossaler Bedeutung und zeige, dass Polen in dem Konflikt mit der EU-Kommission Recht habe, sagt Vize-Justizminister Sebastian Kaleta. „Der deutsche Verfassungsgerichtshof hat heute direkt gesagt, dass die EU soviel darf, wie ihr die Mitgliedstaaten erlauben.“

Was also, wenn Polen, Ungarn oder andere Staaten sich ein Beispiel an Deutschland nehmen und EuGH-Urteilen künftig nicht mehr folgen? Für Mayer würde das am Kern der Staatengemeinschaft kratzen. Das gemeinsame Recht sei für den Zusammenhalt der EU entscheidend. „Die europäische Gemeinschaft ist eben nur eine Rechtsgemeinschaft. Und der EuGH ist Ausdruck dieses gemeinsamen Rechts.“

Eine entschiedene Reaktion sei deshalb wichtig, sagt Mayer. „Aus Sicht des Europarechts kann man sich das nicht bieten lassen.“ Die EU-Kommission müsse ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einleiten - wegen der Nicht-Befolgung des EuGH-Urteils und vielleicht auch wegen der Verletzung der Unabhängigkeit der EZB.

Solche Verfahren stößt die Brüsseler Behörde regelmäßig an, wenn ein Land aus ihrer Sicht gegen EU-Recht verstößt. Zunächst wird auf schriftlichem Wege versucht, die Differenzen auszuräumen. Falls ein Staat nicht einlenkt, kann die EU-Kommission das Land vor dem EuGH verklagen. Bestätigt der Gerichtshof den Rechtsverstoß, kann die EU-Kommission finanzielle Sanktionen gegen das Land beantragen.

Ist das tatsächlich denkbar? EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen gibt sich in einem Brief an den Grünen-Europapolitiker Sven Giegold entschlossen. „Ich nehme diese Sache sehr ernst“, heißt es in dem Schreiben, das der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. Der Richterspruch werfe Fragen auf, die den Kern der europäischen Souveränität berührten. Die Kommission analysiere das Urteil derzeit und prüfe auch ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland.

„Das letzte Wort zum EU-Recht hat immer der Europäische Gerichtshof in Luxemburg“, schreibt von der Leyen. Die EU sei eine Werte- und Rechtsgemeinschaft, die die EU-Kommission jederzeit wahren und verteidigen werde. „Das ist, was uns zusammenhält.“

(felt/dpa)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort