Deutschland Hamburgs Eiland im Wattenmeer

Hamburg liegt nicht nur an der Elbe, sondern auch am Meer. Zumindest ein kleiner Teil der Hansestadt ist weit weg von der City. Ein Weg dorthin führt mit der Kutsche durchs Watt. Die Insel Neuwerk ist Zentrum des Nationalparks Hamburgisches Wattenmeer.

 Hoch oben sitzen die Fahrgäste auf dem Wattwagen. Schließlich sollen sie trocken bleiben, wenn die Pferde die Kutsche durch einen der Priele ziehen.

Hoch oben sitzen die Fahrgäste auf dem Wattwagen. Schließlich sollen sie trocken bleiben, wenn die Pferde die Kutsche durch einen der Priele ziehen.

Foto: dpa-tmn/Larissa Loges

Mehr oder minder elegant kraxeln die Touristen über eine Leiter hinauf auf die gepolsterten Dreiersitze. Stämmige Pferde scharren auf dem sandigen Parkplatz ungeduldig mit den Hufen. Als gebe es im Watt Hafer, Möhren und Äpfel statt Schlick, Würmer und Priele. Dicke Wolldecken liegen auf den Sitzbänken und deuten darauf hin, dass die Sonne nicht immer so vehement scheint wie an diesem Herbsttag in Cuxhaven-Sahlenburg.

Rund 50 Kutschen ziehen in der Hauptsaison täglich über den Meeresboden der Nordsee. Von der Küste durch die Helgoländer Bucht zur Insel Neuwerk und zurück, ab Duhnen oder eben ab Sahlenburg.

Rumpelnd wird die Leiter unter dem Zweispänner verladen. Der gelbe Wattwagen zuckelt los. Mit Schwung ziehen ihn die beiden Pferde über eine Dünenanhöhe, vorbei an Strandkörben geht es in das Hamburgische Wattenmeer. Fünf Kutschen fahren in Karawane durch das Weltnaturerbe. Gut elf Fahrkilometer liegen vor Pferden, Kutschern und Gästen. Von Cuxhaven nach Hamburg, beziehungsweise dessen Stadtteil Neuwerk. Das Eiland liegt rund 120 Kilometer Luftlinie vom Stadtzentrum Hamburgs entfernt und gehört von ein paar Unterbrechungen abgesehen seit mehr als 800 Jahren zur Hansestadt. Neben Neuwerk selbst zählen auch die unbewohnten Nachbarinseln, die Vogelschutzgebiete Nigehörn und Scharhörn, zum Stadtteil.

Neuwerk ist Zentrum des 1990 gegründeten Nationalparks Hamburgisches Wattenmeer. „350 Hektar groß, 35 Einwohner, fünf schulpflichtige Kinder, eine Lehrerin“, zählt Kutscher Bruno auf. Eine gute Stunde dauert die Fahrt. Bruno hätte sicher Gesprächsstoff für eine wesentlich längere Reise. Munter brüllt der Mann gegen den Fahrtwind an, Zügel und Gerte fest in den Händen. „Weiterführende Schulen gibt es aber nur in Cuxhaven.“

Mit einem Kopfnicken zeigt er in Richtung einer Rettungsbake, deren stählerner Mast einsam aus dem Schlick aufragt. An der Spitze ist ein Metallgitterkorb angebracht. „Darin haben so fünf bis acht Personen Platz. Oben drin ist eine Kiste mit Aludecken und Leuchtfackeln. 2017 haben wir sechs Leute von der Bake geholt“, sagt er. Wattwanderer, die von der Flut überrascht wurden. Statt mit der Kutsche kann man die Insel auch zu Fuß oder auf einem Pferd reitend erreichen.

Sieben Priele, also Wasserläufe, müssen auf dem Weg durchfahren werden, erklärt Bruno. Kutschpferde, die Wasser nicht mögen, könne man natürlich nicht gebrauchen. Die Wagenkolonne kreuzt das Elbe-Weser-Fahrwasser.

Mehr als 130 Gästebetten gibt es laut der regionalen Tourismus-Gesellschaft auf dem Eiland. Die Palette reicht von Campingplatz bis Leuchtturmzimmer. 1905 wurde die Insel Seebad und Erholungsort. In den letzten zehn Minuten Fahrt ist der Vorposten in der Elbmündung schnell näher gerückt. Aus dem Watt führt ein kleiner Pflasterweg vorbei an Salzwiesen, Obstbäumen und Kühen. Von der Fahrt auf der Kutsche gut geschüttelt erreichen die Fahrgäste die Insel Neuwerk.

„Freie und Hansestadt Hamburg“ steht auf einem Schild mit weißer Schrift auf rotem Grund. Es wirkt klein gegenüber einem der ältesten Bauwerke Hamburgs: Stoisch thront der rund 40 Meter hohe Leuchtturm über seiner Insel und deren rund fünf Kilometer langem Deich. Seit 1310 steht er da, aus Backstein gebaut, eckig, trotzig, wehrhaft.

Einst diente er als Wehrturm zum Schutz vor Piraten, erst später als Leuchtturm. „Störtebeker war dort eingesperrt“, behauptet Bruno. Ein Fahrgast sinniert über die Gültigkeit von Brunos historischen Quellen und will später, zurück auf dem Festland, ein Geschichtsbuch bemühen. Fakt ist: Mehr als 100.000 Besucher pro Jahr kapern das kleine Eiland, das man leicht in einer Stunde zu Fuß erkunden kann.

Dabei führt der Weg auch auf den 1319 geweihten Friedhof der Namenlosen, wo früher angeschwemmte Leichen ihre letzte Ruhestätte fanden. Hier liegen Gestrandete, Havarierte und Opfer von Piratenüberfällen. Auf einsamem Grün stehen rund 20 anonyme Kreuze, die wohl symbolisch für weit mehr Verstorbene stehen. Nur ein Grab hat einen Namen: Es gehört Herbert Vogel. Der 18-jährige Bremer kenterte 1928 mit seiner Yacht und ertrank.

Heute werden angetriebene Tote auf das Festland transportiert und dort bestattet. Auch die Neuwerker würden an Land beerdigt, erzählt Bruno: „Die wollen da oben im Salzwasser nicht liegen.“

Auf der Rückfahrt kehrt der Kutscher Neuwerk auch thematisch den Rücken und schüttet sein friesisches Herz aus. Sorgenfalten liegen auf seinem freundlichen, rundlichen Gesicht. Das „Damoklesschwert der Nordlichter“ bekümmert ihn. Er meint die Sturmfluten. Bauern, die ihr Vieh verlieren. Deiche, die erhöht werden müssen, weil Dörfer zerstört und Menschen getötet wurden von den Wassermassen.

Plötzlich ist der idyllische Besuch nur noch halb so glitzernd. Aus Seemanns- oder Seekutscherlatein wird Alltagsgeschichte. Man bekommt eine Idee vom Leben mit der See auf diesem kleinen Stückchen Hamburg mitten in der nördlichsten Ecke Niedersachsens.

Übrigens: Wer nicht bei Ebbe mit der Kutsche nach Neuwerk fahren will, kann von April bis Oktober bei Flut auch ein Schiff nehmen. Es fährt täglich von Cuxhaven, vom Anleger „Alte Liebe“.

(dpa)
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