Vereine und Verbände Die Boßel-Karawane zieht nach Hartefeld

Geldern · Karl-Heinz Lorenz und seine Mitstreiter vom Boßel-Club Geldern haben den ostfriesischen Volkssport für sich entdeckt.

 Boßeln macht Spaß und ist gesellig: Andreas Becker, Karina Behr, Jürgen Westerheide, Jörg Ellermann, Karl-Heinz Lorenz, Helmut Itgenshorst, Irene Brück, Werner Itgenshorst, Josie Franzen und Josef Grund (v.l.) nehmen gerne neue Mitstreiter in ihrer Runde auf.

Boßeln macht Spaß und ist gesellig: Andreas Becker, Karina Behr, Jürgen Westerheide, Jörg Ellermann, Karl-Heinz Lorenz, Helmut Itgenshorst, Irene Brück, Werner Itgenshorst, Josie Franzen und Josef Grund (v.l.) nehmen gerne neue Mitstreiter in ihrer Runde auf.

Foto: ja/Heinz Spütz

Weihnachten liegt bereits in der Luft. In der „Geldernsche Heide“, genauer gesagt am Marktweg, Ecke Pottbecker Weg, treffen sich sechs Männer und drei Frauen zum Wintersport. Die meisten von ihnen haben das Berufsleben hinter sich gelassen. Hier, abseits der Stadt und ohne störenden Straßenverkehr, haben sie ihr ideales Terrain für ihr Freizeitvergnügen gefunden: Boßeln.

Diese Sportart hat ihre Wurzeln in Ostfriesland und ist dort populärer als Fußball. Auf schnurgeraden, asphaltierten Wegen hinterm Deich werfen dort stramme Boßler die Kugel so kraftvoll, dass sie manchmal gar nicht mehr liegen bleiben möchte. Zwei Kugeln, einen modernen Handwagen als Material- und Versorgungswagen und einen „Krabber“ – mehr braucht’s nicht zu einer gelungenen Boßel-Partie. Zwei Teams sind schnell gebildet. Team eins bekommt die rote Kugel, der Gegner die gelbe. Rot fängt an. Josef Grund holt gerade kräftig Schwung und plant den ersten Wurf. „Halt Stop“, ruft Karl-Heinz Lorenz und pfeift seinen Sportkameraden zurück. „Wir müssen erst alle einen Glühwein trinken. Die Kanne dröppelt und versaut sonst den ganzen Wagen.“ Bei nasskalter Witterung um die null Grad eigentlich keine schlechte Idee. Und der schöne Wagen darf schließlich auch nicht versaut werden.

Dann geht’s endlich los. Beide Mannschaften stehen an der Abwurflinie und werden versuchen, die vorgegebene Wanderstrecke mit möglichst wenigen Würfen zu bewältigen. „Wir werfen heute in Richtung Hartefeld“, sagt Werner Itgenshorst. „Und dann gucken wir mal, wie weit wir kommen.“ Gut vier Kilometer werden die Sportfreunde an diesem Nachmittag in einer guten Stunde zurücklegen.

Erst einmal landet die 900 Gramm schwere Vollgummikugel mit Bleikern im Graben. Das soll noch häufiger passieren, manchmal fällt sie auch in ein matschiges Feld oder versteckt sich unter Sträuchern. Jetzt kommt der Krabber zum Einsatz. Am Ende eines langen Holzstiels befindet sich eine Art Fangkorb aus Metall, mit dem die Kugel aus dem Graben gefischt werden kann. Wenig später prallt das Spielgerät gegen einen Strommast und bleibt liegen. In Ostfriesland wäre jetzt ein „Strommastschluck“ fällig, im Gelderland gibt man sich enthaltsamer. Die Boßelkarawane zieht weiter.

Fast alle Mitglieder der munteren Boßel-Truppe aus Geldern bevorzugen die Kegeltechnik. Nur Andreas Becker hat einen eigenen Stil entwickelt. Er rennt und springt und wirft die Kugel mit ordentlich Schmackes über die Asphaltpiste. Andreas ist gebürtiger Ostfriese aus Esens und hat in seiner Jugend lange Zeit im Verein geboßelt. Seine Technik und Dynamik hat er nicht verloren. „An guten Tagen rollt die Kugel über 200 Meter weit“, erzählt Helmut Itgenshorst. Aber solch einen Tag hat diesmal keiner erwischt.

Der Wendepunkt am Hartefelder Heideweg, Ecke Vennmansweg, ist erreicht. Die Kanne dröppelt zwar nicht mehr, muss aber leer getrunken werden. Nun noch mal die gleiche Strecke zurück. An der ersten Kurve gibt’s die ersten Diskussionen. Helmut Itgenshorst bestimmt, dass die Kugel von seiner Mannschaft 15 Meter nach vorne gelegt werden kann. Eine Regelauslegung, die Jörg Ellermann nicht verstehen kann. „Du kennst nix von den Regeln“, bescheinigt ihm Helmut. „Is klar“, antwortet Jörg, „ich werfe die Kugel gleich genau einen Meter weit, nur, damit du auch ja gewinnst.“ Das gehört dazu – selbstverständlich vertragen sich die Boßel-Brüder schnell wieder.

Helmut Itgenshorst und sein Bruder Werner kennen die Regeln in- und auswendig. Beide boßeln schließlich schon seit 40 Jahren. „Das hat damals mit den Bergknappen angefangen, mit Egon Bootsmann,“ beginnt er zu erzählen, „Egon kam aus Ostfriesland, hat Arbeit gesucht und war mit uns auffem Pütt. Mit dem Bergknappenverein sind wir immer zum Boßeln nach Ostfriesland gefahren.“ Noch heute fahren die beiden regelmäßig in den Landkreis Aurich zum Boßelverein Bernuthsfeld/Tannenhausen, aber jetzt nur noch einmal im Jahr über Pfingsten. „Das lohnt sich bald nicht mehr“, erklärt Helmut, „die meisten leben ja nicht mehr.“

„Mann, Andreas“, ruft Karina, „warum werfe ich immer so schnell ins Gebüsch?“ Die fachmännische Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: „Du musst den Arm gerade halten, wie beim Essen die Gabel. Sonst triffst du den Mund nicht und wirst nicht satt.“ Der beste „Frauenwurf“ des Tages gelingt Josie Franzen. Sie weiß gerade nicht, wie ihr geschieht, genießt die Begeisterung um sie herum aber in vollen Zügen.

Das Ziel ist erreicht, die rote Mannschaft hat gewonnen. „Stimmt gar nicht“, verbessert Werner, „schreib Unentschieden, das liest sich besser.“

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