Doppelmord-Prozess geht in letzte Phase Marcel H. — ein mitleidloser Sonderling

Bochum · Warum hat Marcel H. zwei Menschen getötet? Darauf versucht das Bochumer Schwurgericht eine Antwort zu finden. Der Prozess geht in seine letzte Phase. Nach und nach setzen sich die Aussagen der Zeugen zu einem Bild zusammen.

 Marcel H., halb verdeckt von seinem Verteidiger Michael Emde, im Saal des Bochumer Landgerichts.

Marcel H., halb verdeckt von seinem Verteidiger Michael Emde, im Saal des Bochumer Landgerichts.

Foto: Ina Fassbender

"Ich bin ein Mensch" — das war der erste Satz von Marcel H. in seiner Vernehmung bei der Polizei, nachdem er am 9. März 2017 in Herne festgenommen worden war. Der Vernehmungsbeamte, ein gestandener Polizist von 48 Jahren, hatte ihn damals gefragt: "Wer sind Sie?" Diese Frage stellt der Beamte seinen Verdächtigen immer. Er will wissen, ob sie sich ihrer Situation bewusst sind. Damals dachte er kurz, H. sei nicht ganz bei sich. Dass ein Verdächtiger nach der Tat nicht vollständig orientiert ist, hat der Polizist schon öfter erlebt.

Am 6. März 2017 soll Marcel H. seinen neunjährigen Nachbarsjungen Jaden und keine 24 Stunden später seinen Bekannten Christopher W. in Herne getötet haben. "Wissen Sie, warum Sie hier sind?", fragte der Polizist als nächstes. "Weil ich zwei Menschen getötet habe", sagte H. da. Mit einem abgeklärten, kühl und offenbar ohne Reue vorgetragenen Geständnis hatte der Ermittler nicht gerechnet. "Er hat mir seine Aussage fast diktiert", sagt der Beamte vor Gericht ein knappes halbes Jahr nach der Vernehmung. Im Protokoll vermerkte der Beamte damals: "Bei mir stellte sich das Gefühl ein, er will durch die Berichterstattung sein Werk vollenden."

Niemand versteht diese Taten — weder die Ermittler noch die Mütter der beiden Opfer oder die ehemaligen Weggefährten von Marcel H. können nachvollziehen, wie es dazu kommen konnte. Selbst für erfahrene Mordermittler ist dieser Fall außergewöhnlich. Das Motiv: Frustration über sein Leben — klingt viel zu banal. Die Taten: über alle Maßen brutal. Der Täter: ein erst 19-jähriger empathieloser Sonderling.

Das Was und Wie hat der Prozess mit schier grausamer Detailtiefe schon ans Licht gebracht. Doch das Warum ist noch nicht geklärt. Ob es darauf überhaupt eine abschließende Antwort geben wird, bleibt fraglich.

120 gedruckte DIN-A4-Seiten umfasst das vorläufige psychiatrische Gutachten. Eine so ausführliche Anamnese hat Marcel H.s Verteidiger, Michael Emde, noch nie gelesen, wie er sagt. H.s Gefühlskälte mache diesen Fall auch für ihn besonders schwer erträglich. Die Mitleidslosigkeit ist es, die in diesem Fall besonders hervortritt.

Marcel H. schweigt bisher im Prozess, der seit Anfang September vor dem Bochumer Landgericht verhandelt wird. In den Verhandlungen wirkt es oft so, als sei er überhaupt nicht anwesend. Er reagiert auf gar nichts, nicht auf die emotionalen Aussagen von Jadens Eltern und dem älteren Bruder. Die Tränen, die Wut, die Fassungslosigkeit lässt er mit stoischer Gleichgültigkeit an sich abgleiten. H. sitzt immer in derselben Haltung auf seinem Platz neben seinem Verteidiger: sein Oberkörper ist leicht nach vorne gebeugt, die Hände liegen ineinander auf dem Schoß, das Gesicht dem Vorsitzenden Richter zugewandt, aber sein Blick ist stets leicht nach unten gerichtet. Niemals blickt H. die Zeugen an.

Jaden hat er mit 52 Messerstichen getötet, auf Christopher W. stach er 68 Mal ein. "Übertöten" nennen Kriminologen das. Seine Opfer waren längst tot, doch Marcel H. stach weiter auf sie ein. Dass der schmächtige Junge körperlich überhaupt dazu in der Lage war, den drei Jahre älteren und kräftigen Christopher W. zu überwältigen, ist überraschend.

Wahrscheinlich muss man viel weiter zurückgehen, um zu ergründen, was im Leben des Angeklagten schief gelaufen ist. Von körperlicher Gewalt und Missbrauch in der Kindheit wurde im Prozess nichts bekannt. Auch dies ist ungewöhnlich. Täterbiografien weisen oft eigene Gewalterfahrungen auf, Kriminologen erklären damit spätere Gewaltausbrüche. Während Gewalttäter fast alle selbst Gewalt erfahren haben, wird umgekehrt nicht jeder, der aus schwierigen Verhältnissen kommt, zum Täter.

Die Anwesenden im Gerichtssaal erfahren nur indirekt etwas über den Angeklagten. Eine ehemalige Lehrerin erinnert sich vor Gericht an einen Tag, an dem Marcel H. vor ihr geweint hat. H. sei elf oder zwölf Jahre alt gewesen. In dieser Zeit hatten H.s getrennt lebende Eltern vereinbart, dass er zum Vater ziehen soll. Seine Schwester und der ältere Bruder blieben bei der Mutter und deren neuen Partner. "Er fühlte sich nicht mehr geliebt — weder von der Mutter noch vom Vater", sagt die Lehrerin. Das habe er unter Tränen erzählt, nachdem sie ihn zur Rede gestellt hatte, weil er eine andere Lehrerin als "Hurenschwein" beschimpft hatte.

Marcel H. sei verhaltensauffällig gewesen, erzählt die Lehrerin. Vier Jahre lang soll er in Psychotherapie gewesen sein, nachdem er in der Grundschule eine andere Lehrerin mit einer Schere angegangen ist. Wie impulsiv H. oft sein konnte, erzählt seine 22-jährige Schwester vor Gericht. Als Teenager soll H. mit dem Messer auf den älteren Bruder losgegangen sein. "Das steckte hinterher im Türrahmen", sagte die Schwester aus. Mehrere Zeugen schildern im Prozess, dass Marcel H. ein Kissen in seinem Zimmer hatte, in dem zwei Messern steckten. Einer Psychologin sagte er im Gefängnis, dass er mit den Messern auf das Kissen eingestochen habe, wenn er frustriert aus der Schule kam. "Er sagte, das habe eine beruhigende Wirkung auf ihn gehabt", sagte die Psychologin. Gewalt — so scheint es — war sein Mittel, um seine Aggression abzureagieren.

In der Realschule soll er sich einmal in einer Sozialstunde, als über Probleme innerhalb der Klasse geredet wurde, vor seine Mitschüler gestellt und gesagt haben: "Haltet bitte etwas Abstand zu mir." Die anderen Schüler hätten akzeptiert, dass er keine Nähe wolle, sagt die damalige Lehrerin. Gleichzeitig habe Marcel H. unbedingt mit auf Klassenfahrt gewollt, sich dort dann vorbildlich verhalten. "Ich hatte das Gefühl, dass er zum ersten Mal ein paar Freunde gefunden hat nach einer nicht so schönen Grundschulzeit."

Richtige Freunde hatte Marcel H. aber bis zuletzt nicht. Seine Welt war das Internet, Videospiele, nicht das echte Leben. Bis zu 16 Stunden am Tag verbrachte er in seinem Zimmer vor dem Computer. Seine Familie hat sich nach seiner Festnahme von ihm abgewendet. Seine Schwester ist die einzige der Familie, die vor Gericht aussagen wollte. Sie habe ihren Bruder im Gefängnis gefragt: "Bereust du es?" Doch er habe nur mit einer unglaublichen Gleichgültigkeit geantwortet: "Nein."

Der Prozess wird kommende Woche Montag und Freitag fortgesetzt.

(heif,chs)
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