Parlamentswahl Fake News für 900 Millionen Wähler

Neu Delhi · Derzeit findet in Indien die größte Wahl der Welt statt. Doch die Abstimmung wird von einer Flut von Desinformation überrollt.

 Nachrichten werden in Indien heute vor allem über Smartphones verbreitet. Dazu gehören auch zahlreiche Falschmeldungen, Desinformation und Hasspropaganda. Davon kursieren im Rahmen der derzeit laufenden Parlamentswahl noch deutlich mehr als sonst schon.

Nachrichten werden in Indien heute vor allem über Smartphones verbreitet. Dazu gehören auch zahlreiche Falschmeldungen, Desinformation und Hasspropaganda. Davon kursieren im Rahmen der derzeit laufenden Parlamentswahl noch deutlich mehr als sonst schon.

Foto: AP/Manish Swarup

36 Muslime sollen zwischen Mai 2015 und Dezember 2018 zum Opfer von hinduistischen Lynchmorden geworden sein. So heißt es in einem Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Spannungen zwischen Hindus und Muslimen gehören in Indien zum Alltag, doch der Wahlkampf und der schwelende Konflikt mit Pakistan in der Kaschmir-Region haben die Lage weiter zugespitzt.

Eine schier unlösbare Situation? Ein 16-jähriges Mädchen an einer Schule in Neu Delhi findet das nicht. Sie hat sich mit ihren Mitschülern im Gemeinschaftsraum versammelt und vertritt hitzig ihre Position: „Weder das Gericht noch der Volkszorn sollte dieses Problem lösen, sondern eine bessere und stärkere Polizei.“ Doch welchen Einfluss hat schon eine 16-Jährige auf die Politik eines Landes, in dem 1,3 Milliarden Menschen leben?

Kommt ganz darauf an, meint Abeer Kapoor. Er hält das Video an, das er gestern von der Diskussion und der Schülerin gemacht hat. Kapoor hat das Wahlkampfspiel „The Poll“ entwickelt und ist damit in vielen Schulen Neu Delhis unterwegs. „Wenn junge Menschen anfangen über Politik zu diskutieren, so denke ich, kann das nur gut für unsere Demokratie sein. Sie werden sich ihrer eigenen Einstellung mehr bewusst“, sagt Kapoor. Der 27-Jährige arbeitete jahrelang als Journalist und hat sich intensiv mit der indischen Politik auseinandergesetzt. Umgesetzt und finanziert hat er das Spiel gemeinsam mit der Nichtregierungsorganisation Smart und der Friedrich-Naumann-Stiftung in Neu Delhi.

 Abeer Kapoor hat das Spiel „The Poll“ erfunden.

Abeer Kapoor hat das Spiel „The Poll“ erfunden.

Foto: Marie Ludwig

Vorbild für „The Poll“ war das deutsche Spiel „Die Macher“, das sich um Parteien, Geld und Macht im deutschen Wahlkampf dreht. Das Spiel wurde erstmals 1986 herausgebracht. Beide Spiele leben von der Idee, dass die Teilnehmer neben einer klaren Wahlkampf-Argumentation auch die Komplexität von Problemen, Einflussfaktoren und Fachvokabular verstehen müssen. So beginnen die Spieler in „The Poll“ zunächst mit der Formulierung eines Manifests für ihre Partei, anschließend startet die Kampagne. Und diese kann ziemlich schmutzig werden. Denn obwohl es zwar möglich ist, das Spiel auch mit Fairplay zu gewinnen, können Konkurrenten auch illegale Strategien einsetzen wie etwa Stimmenkauf. Manch ein Wahlversprechen könne nur gehalten werden, wenn man Geld leiht oder es möglicher weise sogar klaut, so Kapoor. Ihm ist auch aufgefallen, dass zahlreiche Spieler ihre Wahlkampfversprechen schnell brechen, denn um das Spiel zu gewinnen ist nur wichtig, wie viele Parlamentssitze man erringt.

Eine weitere Strategie, die Kapoor aus der Praxis entwickelt hat, ist die Spielkarte des sogenannten Whatsapp-Onkels. „Wir haben doch alle diesen einen Onkel, der Fake News glaubt“, sagt er. Im Spiel steht der Onkel für jemanden, der sich von Desinformation blenden lässt und Unwahrheiten über soziale Medien weiterverbreitet.

 Das Spielbrett und die Karten für „The Poll“ hat Kapoor in vier Phasen entwickelt.

Das Spielbrett und die Karten für „The Poll“ hat Kapoor in vier Phasen entwickelt.

Foto: Philipp Anft

Mitten in Mumbai, in einer ehemaligen Textilfabrik, beschäftigen sich Govindraj Ethiraj und weitere 15 Menschen genau mit diesem Problem. Sie arbeiten für die Firma „Boom“ und sind indischen Fake News auf der Spur. Manche davon handeln von Kartoffelchips, die angeblich Plastik enthalten, weil sie gut brennen. „Über so etwas möchte man nur lachen, aber betrachtet man andere Gerüchte, ändert sich das schnell“, sagt Ethiraj, der als Journalist unter anderem für den angesehenen Wirtschaftsinformationsdienst Bloomberg gearbeitet hat.

 Govindraj Ethiraj hat „Boom“ 2014 gegründet.

Govindraj Ethiraj hat „Boom“ 2014 gegründet.

Foto: Florian Guckelsberger

Als Beispiel nennt er ein Gerücht über Schmerzmittel, die angeblich tödlich sein sollen. Diese Falschnachricht führte sowohl zu einem Imageverlust für den Hersteller des Produkts als auch zu immensen Umsatzeinbußen für das Unternehmens. „Stellt man sich vor, dass jemand in der eigenen Familie an Krebs erkrankt ist, und diese Person vielleicht gerade dieses Schmerzmittel genommen hat, dann passiert es schnell, dass sich eigene Glaubenssätze ändern. Gerade das ist die Gefahr!“ Denn obwohl Fake News oft widerlegt werden könnten, bedeute das noch lange nicht, dass sie sich damit aus der Welt schaffen ließen, sagt Ethiraj.

Viele Medienunternehmen weltweit berichten bewusst nicht über Fake News, um deren Verbreitung nicht zu fördern. „Boom“ geht einen anderen Weg: In einer TV-Sendung, die sich „Fact versus Fiction“ nennt, informiert das Medienunternehmen täglich live über soziale Medien wie Facebook und die Video-App Periscope über aktuelle Desinformationen. „Es liegt uns viel daran, das Bewusstsein der Menschen zu schärfen. Im Moment bekämpfen wir die Falschnachrichten jedoch auf einem sehr niederschwelligen Niveau“, sagt Ethiraj. Er beklagt, dass es den amerikanischen Internet-Giganten wie Facebook oder Google oft an Verständnis dafür mangele, dass Technologien allein nicht die Lösung im Kampf gegen Fake News sein können. „Man müsste diese Technologien mit mehr menschlichen Interventionsmöglichkeiten ergänzen, denn das ist die Natur der Desinformation“, sagt Ethiraj. Derzeit würden sich bei Facebook lediglich 35 bis 40 Mitarbeiter mit dem Heraussieben von falschen Nachrichten beschäftigen. „Boom“ arbeitet mit Facebook zusammen und sorgt dafür, dass täglich zwischen 50 bis 60 Fake News aus den sozialen Medien in Indien verschwinden.

220 Millionen Inder nutzen Facebook, 230 Millionen den Messengerdienst WhatsApp. Ist eine Falschmeldung einmal erkannt, so drosselt Facebook deren Verbreitung durch einen Algorithmus. Doch was auf Facebook vergleichsweise einfach geschehen kann, ist bei Whatsapp fast unmöglich. Hier kommunizieren die Nutzer meist privat, und sobald ein Gerücht einmal im Umlauf ist, lässt es sich kaum noch stoppen.

„Inzwischen versorgen Mobiltelefone Menschen mit Informationen, doch viele realisieren nicht, dass es Fake News sein könnten, die sie angezeigt bekommen“, sagt Ethiraj. In Europa würden Fake News vielleicht Einfluss auf die Meinung nehmen, „aber Indien wurden allein im vergangen Jahr mehr als 30 Menschen durch Fake News getötet.“ Ein Beispiel ist ein Whatsapp-Gerücht, wonach Kinder entführt worden seien. Die Nachricht stellte sich als falsch heraus. Trotzdem wurden sieben Menschen aufgrund der Anschuldigungen ermordet. Bei den Tätern handelte es sich um aufgestachelte Mütter.

Ein anderes Beispiel sind immer wieder kursierende Gerüchte über Muslime, die angeblich Rindfleisch gegessen haben sollen. Kühe gelten in der hinduistischen Kultur als heilig, sodass in einigen Regionen des Landes Hindus auf Muslime losgingen.

Auch im Wahlkampf werden Fake News genutzt, um den Gegner zu diskreditieren. Ethiraj konnte sowohl in Reihen der BJP von Premierminister Narendra Modi als auch der Kongresspartei seines größten Herausforderers Rahul Gandhi die Verbreitung von Fake News über den Gegner feststellen. Doch die Parteien machen sich auch andere Wahlkampfstrategien zunutze. Beispielsweise ist Premierminister Modi seit Kurzem auf dem Sender NaMo-TV zu sehen, wie er Yoga unterrichtet. Die BJP hat die Anschuldigungen indes zurückgewiesen, es handele sich dabei um Wahlwerbung.

Der Beitrag entstand infolge einer von journalist.network e.V. organisierten Recherchereise.

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