Gastbeitrag des russischen Botschafters „Wie wir den INF-Vertrag retten“

Berlin · Der russische Botschafter kritisiert in einem Gastbeitrag für unsere Redaktion fehlende Belege für US-Behauptungen über Raketenentwicklungen seines Landes, erhebt schwere Vorwürfe wegen US-Verstößen, bekundet jedoch Gesprächsbereitschaft über alle Details.

 Der russische Botschafter in Deutschland, Sergej J. Netschajew (Archivbild).

Der russische Botschafter in Deutschland, Sergej J. Netschajew (Archivbild).

Foto: dpa, mkx gfh

Der Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme zwischen der UdSSR und den USA (INF-Vertrag) wurde seinerzeit zweifelsohne zu einer zeichenhaften Vereinbarung und einem der Eckpfeiler des europäischen Sicherheitssystems. Mit diesem Vertrag wurden zwei Klassen von Kernwaffen vernichtet: ballistische und bodengestützte Marschflugkörper mit mittlerer (von 1001 bis 5500 km) und kürzerer Reichweite (von 500 bis 1000 km).

Russland bleibt dem INF-Vertrag vollkommen verpflichtet und plädiert für seinen Erhalt unter der Voraussetzung, dass die amerikanische Seite ihn auch strikt einhält. Wir lehnen beliebige Spekulationen ab, dass die russische Seite angeblich dieses Dokument verletzt habe. Über viele Jahre hinweg bitten wir unsere amerikanischen Kollegen, Beweise für Anschuldigungen gegen uns vorzulegen. Und eben um Beweise steht es bei ihnen schlecht.

Es genügt zu sagen, dass die Amerikaner den in den Medien kursierenden Namen 9M729 erst im Dezember 2017 und dabei auf einem Expertentreffen ohne russische Teilnahme erwähnt haben. Nach dem Eingang einer offiziellen Anfrage lieferte die russische Seite erforderliche Informationen über diese Rakete, ihre technischen Parameter, den Zeitpunkt und Ergebnisse der Tests, die eine volle Vertragskonformität der Rakete bestätigen (9M729 ist eine modernisierte Variante der Rakete für das Iskander-M-System, am 18. September 2017 wurde ein Teststart dieser Rakete auf dem Testgelände „Kapustin Jar“ für eine maximale Reichweite von weniger als 480 Kilometern durchgeführt). Bis Dezember 2017 benutzten die Amerikaner den von ihnen frei erfundenen Namen SSC-8. Noch früher sprachen sie davon, dass Russland ein gewisser bodengestützter Marschflugkörper mit Reichweiten zwischen 500 und 5.500 km vorliege (d.h., dass dieser Marschflugkörper gleichzeitig zu den beiden Klassen von Flugkörpern nach dem INF-Vertrag gehören sollte!). Als „Beweise“ wurden uns einfache Screenshots von einer freizugänglichen Website, die Satellitenaufnahmen anbietet, übermittelt, auf denen unscharfe Umrisse der Elemente der Abschussvorrichtung zu erkennen sind.

Man schlug uns vor, Daten zu allen Tests von Flugkörpern dieser Klasse aus zehn Jahren zu übergeben, damit die amerikanische Seite selbst die Zeitpunkte der Starts, die sie interessieren, auswählen konnte. Im Endeffekt nannten die Amerikaner den konkreten Zeitpunkt des „dubiosen“ Tests fünf Tage vor der Ankündigung durch Donald Trump, sich aus dem Vertrag zurückziehen zu wollen. Das zeugt eindeutig vom fehlenden Interesse an der Klärung der Wahrheit.

Die USA haben objektive Angaben zur Begründung ihrer Vorwürfe immer noch nicht übermittelt und sprechen nach wie vor von „glaubwürdigen Informationen“, die sie nicht mitteilen würden. Nach amerikanischer Logik sollte Russland sich also selbst einen Verstoß gegen den Vertrag ausdenken, ihn eingestehen und zugleich Washington die Informationen über andere russische Entwicklungen liefern, für die sich die USA nachrichtendienstlich interessieren und die weit außerhalb des INF-Vertrags liegen.

Für diesen Fall sieht der Vertrag einen konsultativen Mechanismus vor, nach dem die USA Informationen zu den drei Schlüsselaspekten vorlegen: genau die besorgniserregende Rakete zu benennen, auf konkrete und aus ihrer Sicht fragwürdige Teststarts hinzuweisen sowie objektive Daten zu übermitteln, die als Grundlage für derartige Schlussfolgerungen dienen. Wir sind zu diesem Gespräch bereit. Aber das soll ein ernsthaftes und fachliches Gespräch sein mit konkreten und überprüften Tatsachen  und nicht eine Reihe von öffentlichen Statements mit Formulierungen wie „es gibt keine anderen plausiblen Erklärungen“.

Umso sinnloser ist es, diesen Sachverhalt ohne Militärs zu besprechen. Aber die Kontakte auf der militärischen Ebene, unter anderem im Rahmen des Russland-Nato-Rates, wurden auf amerikanische Veranlassung hin 2014 auf Eis gelegt, und Washington weigert sich, sie wiederaufzunehmen. Unsere Anregungen zur Lösung der Fragen zum INF-Vertrag wurden den Amerikanern bereits bei dem bilateralen Gipfel im Juli in Helsinki übergeben. Aber eine Antwort steht immer noch aus.

Mittlerweile haben auch wir zahlreiche und wirklich ernsthafte Fragen an unsere amerikanischen Partner, die leider seit mehreren Jahre unbeantwortet blieben. Beispielsweise entsprechen einige Typen der Angriffsdrohnen vollkommen der in dem Vertrag verankerten Definition des Begriffs „bodengestützter Marschflugkörper“. Wie soll man damit umgehen? Außerdem haben wir alle Gründe, den USA zu unterstellen, unter dem Deckmantel von Zielraketen neue Flugkörper zu entwickeln und zu testen, deren Reichweite, Geschwindigkeit, Steuerung und technische Daten der Sprengköpfe denjenigen Raketen ähnlich sind, die durch den INF-Vertrag verboten sind.

Ein weiteres Problem ist die Stationierung universeller Abschussvorrichtungen Mk-41 der Abwehrsysteme Aegis Ashore in Rumänien und Polen, deren land- und seegestützte Versionen laut ihrer amerikanischen Entwickler mit den Abschussvorrichtungen von Tomahawk-Marschflugkörpern baugleich sind. Es ist nur ein relativ einfaches Software-Update notwendig, das wir nicht verfolgen können. Keiner gewährt uns Zugang dazu, obwohl die USA es versprochen haben, als sie aus dem ABM-Vertrag ausstiegen. All das erfordert ausführliche und ehrliche Diskussionen. Wir haben es nie für möglich gehalten, mit unseren amerikanischen Kollegen eine Sprache der Zankereien zu sprechen. Es gilt, Ethik und Höflichkeit von internationalen Beziehungen zu beachten. Das erwarten wir auch von unseren Partnern.

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